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Ausgabe 84-4/2000

OI!WARNING

Produktion: Schlammtaucher Filmproduktion / WDR / SWR; Deutschland 1998 – Regie und Buch: Dominik und Benjamin Reding – Kamera: Axel Henschel – Schnitt: Margot Neubert – Darsteller: Sascha Backhaus (Janosch), Simon Goerts (Koma), Sandra Borgmann (Sandra), Jens Veith (Zottel), Britta Dirks (Blanca), Dominik Breuer (René) u. a. – Länge: 89 Min. – s/w – FSK: ab 12, ffr. – FBW: wertvoll – Verleih: Nighthawks (35 mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Von den extremen Erfahrungen des Heranwachsens auf der Schwelle zum Erwachsenwerden handelt der erste Spielfilm der 1969 in Dortmund geborenen Zwillingsbrüder Dominik und Benjamin Reding. Pfiffig haben sie sich auch von Anfang an für eine möglichst wirkungsvolle und so weit wie möglich internationale Vermarktung ihres Films eingesetzt. So können sie jetzt nicht ohne Stolz eine stattliche Anzahl von Festivalpreisen aus aller Herren Länder ihr Eigen nennen – von Sundance bis Schwerin, von Montréal bis Karlovy Vary, von Rotterdam bis ins polnische Lagów. Das Festivalpublikum war überall offenbar regelrecht begeistert. Und tatsächlich kann man sich dem ungezügelten Erzähltalent der beiden Filmemacher kaum entziehen. "Oi!Warning" atmet eine Frische, deren Unbefangenheit fasziniert, obwohl sie sich in manchen heiklen Momenten scharf an der Grenze zu diffusem Gewalt-Faszinosum bewegen und in, sicher unbeabsichtigte, Glorifizierung zu kippen drohen.

In grandiosen Schwarzweiß-Bildern von Kameramann Axel Henschel erzählen die Reding-Brüder ganz emotional die Geschichte einer Freundschaft unter jungen Männern, die Skins sind ohne politische Einstellung, aber mit einer Vorliebe für Macho-Attituden und physische Gewalt. Ein 17-Jähriger haut ab aus dem spießigen schwäbischen Zuhause nach Dortmund: Janosch hat keine Lust, sein Abitur zu machen und ist richtig froh, als er von der Schule fliegt. Jetzt überlegt er nicht lange und macht sich auf den Weg zu seinem alten Kumpel Koma, der als Kistenpacker in einer Dortmunder Brauerei arbeitet, eine Wohnung und eine hochschwangere Freundin hat, die noch dazu Zwillinge erwartet. Koma liebt Bier und Kickboxen und freut sich über den Besuch von Janosch, weil er an ihm seine autoritären Ambitionen auslassen kann. Janosch bewundert Koma. So bilden die beiden ein prototypisches Freundes-Duo der temperamentgeladenen Jugendszene am Beginn der Volljährigkeit, wenn man sich besonders heftig gegen etabliertes Erwachsensein sträubt.

In diesem Alter versteht man Kräftig-auf-den-Putz-hauen als Synonym für Männlichkeit. Janosch ist infolgedessen ganz begeistert, als er bei Koma einziehen darf, in derselben Brauerei einen Job bekommt, in der auch Koma arbeitet, und mitgenommen wird zu den Skin-Konzerten. Schon bald lässt er sich auch den Kopf kahl scheren und tauscht die alten Klamotten gegen zünftige Skinhead-Kleidung. Bloß mit der bürgerlichen Welt von Ehe und Familienglück, die Koma jetzt bevorsteht, hat Janosch nichts im Sinn.

Mit intuitiv psychologischer Beobachtungsgabe inszenieren Dominik und Benjamin Reding Motivation und Entstehen der Gewaltspirale in einer Szene, in der erst Koma und dann Janosch wie magnetisch in einen Affekt gezogen werden. Komas grundsätzliche Unzufriedenheit – mit seiner Freundin, die ihn zum ordentlich bürgerlichen Familienvater ummodeln möchte, mit den "Anderen", die ihm das Leben versauen wollen, manchmal auch mit sich selbst – macht sich eines Tages Luft in einer brutalen Aktion, die ausgerechnet den ganz Falschen trifft: einen Punk bei einem Ausflug an den Baggersee. Diese Situation wird auch für Janosch zum fatalen Moment: Er hilft Koma, tritt ebenfalls zu und ist stolz auf sich, als er sieht, wie der Punk Blut spuckt. Mehr und mehr vom Macho-Milieu mit seinen Männlichkeitsritualen fasziniert, lernt Janosch den Feuerschlucker und chaotischen Wilden Zottel kennen – und lieben. Sein Leben ändert sich und die dadurch ausgelösten Emotionen führen zu einer Katastrophe.

Die FSK hat "Oi!Warning" ab 12 Jahren freigegeben. Das ist eine mutige und angesichts der thematischen Aktualität richtige Entscheidung, weil sie dringend notwendige Diskussionen provoziert und die Gesellschaft zur Verantwortung zieht. "Es ist für die Altersklasse ab 12 Jahren eindeutig erkennbar, dass Gewalt 'verlieren' bedeutet, auch Verlust der eigenen Würde – dies alles gespiegelt von einer phasenweise anziehenden wie abstoßenden Musik", heißt es in der FSK-Begründung, die auch darauf hinweist, dass "Gewalt ... keinesfalls verherrlicht" werde, "sondern durchgängig in ihren negativen Konsequenzen als desaströses Mittel der Problembewältigung dargestellt" sei. Und die Jury der Evangelischen Filmarbeit hat "Oi!Warning" zum Film des Monats Oktober 2000 nominiert. Junge Zuschauer haben in Festival- und Test-Vorführungen betroffen und nachdenklich auf die realistische Unmittelbarkeit des mutig emotionalen Films reagiert.

Frauke Hanck

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 84-4/2000 - Interview - Gefühl der Machtlosigkeit

 

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