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Ausgabe 58-2/1994

CHARLIE & LOUISE – DAS DOPPELTE LOTTCHEN

CHARLIE & LOUISE – DAS DOPPELTE LOTTCHEN

Produktion: Filmproduktion Peter Zenk / Bavaria Film / Perathon Film, Deutschland 1994 – Regie: Joseph Vilsmaier – Buch: Stephan Reinhart, Klaus Richter, nach dem Roman "Das doppelte Lottchen" von Erich Kästner – Kamera: Joseph Vilsmaier – Schnitt: Hannes Nikel – Musik: Norbert J. Schneider – Darsteller: Fritzi Eichhorn (Charlie), Floriane Eichhorn (Louise), Corinna Harfouch (Mutter), Heiner Lauterbach (Vater), Hanns Zischler u. a. – Länge: 96 Min. – Farbe – Verleih: Bavaria Filmverleih (35mm) – Altersempfehlung: ab 6 J.

Am 17. Februar 1994 wurde "Charlie & Louise" mit über 200 Kopien als "Film für die ganze Familie" in Deutschland gestartet, und seitdem läuft er im Kino mit beachtlichen Besucherzahlen. Joseph Vilsmaier ist damit gelungen, was er sich vorgenommen hatte: Nicht etwa den Klassiker von Josef von Baky aus dem Jahre 1950 (mit Isa und Jutta Günther in der Hauptrolle) zu entthronen, sondern einen "annähernd so guten Film auf die Leinwand zu bringen, in dem die Leute lachen und weinen können" (siehe KJK Nr. 56-4/1993).

Vilsmayers Filmgeschichte hält sich im Wesentlichen an das Kästnersche Original. Zwei Zwillingsmädchen, nach der Scheidung der Eltern in früher Kindheit getrennt, entdecken ihre wahre Identität und tauschen die Rollen, um den ihnen vorenthaltenen Elternteil kennen zu lernen und die Familie wieder zusammenzuführen. Die Sprache wurde modernisiert, ebenso Schauplätze und Lebensumfelder: Aus Charlotte und Luise sind "Charlie & Louise" geworden, die sich in einem Berlitz-Sprachkurs in Schottland kennen lernen und nicht in einem Ferienheim in Österreich. Der Vater schwingt nicht in der Oper zu Wien den Taktstock, sondern pendelt zwischen seinem häuslichen Chaos und einem unter Geldmangel leidenden kleinen Theater in Berlin-Kreuzberg hin und her, ständig bemüht, neben Beruf und Freundin seiner Rolle als alleinstehender Vater gerecht zu werden. Die Mutter arbeitet nicht als Redakteurin in einer kleinen Münchner Lokalzeitung, sondern ist erfolgreiche wie schicke Werbeagentin in Hamburg mit Heiratsplänen und wenig Zeit für ihre Tochter. Und darin unterscheidet sie sich nicht von der Mutter aus der 50er-Jahre-Verfilmung. Beide opfern sich auf für die Firma, haben ein schlechtes Gewissen ihrem Kind gegenüber. Doch "Charlie & Louise" reagieren anders als das "Doppelte Lottchen". Sie konfrontieren die Eltern mit ihren Emotionen und Wünschen und haben keine Scheu vor dramatischen Gefühlsausbrüchen. Ein Rückblick vermittelt die Gründe für das Scheitern der Ehe, Gründe, die die Kinder nicht akzeptieren. Ihnen gelingt es zwar, die Eltern – die ihre Geschichte verdrängt, aber nicht hinter sich gelassen haben – wieder zusammenzubringen, doch es werden ihnen Argumente präsentiert, die nicht die ihren sind. Als Vater und Mutter plötzlich in schöner Eintracht und fast betulich erklären, dass man nicht einfach wieder weitermachen könnte, wo man vor zehn Jahren aufgehört hat, kontern die Mädchen zornig: "Wir haben uns auch zehn Jahre nicht gesehen und sind jetzt die besten Freundinnen."

In einer spektakulären Nacht- und Nebel-Aktion treffen Vater, Mutter und die Kinder am einsturzgefährdeten Leuchtturm in Schottland zusammen, wo die Geschichte ihren Anfang nahm: Dort hatten Charlie und Louise ihren Rollentausch beschlossen und eingeübt.

Die Sequenzen, in denen sich die kesse Berliner Göre Charlie im vornehmen Hamburger Haus zurechtzufinden versucht, und die wohlerzogene Louise das Chaos des Vaters in ihre Hände nimmt, gehören zu den stärksten des Films – in flotter Schnitt-Gegenschnitt-Folge werden die unterschiedlichen Welten gegenübergestellt. Hamburg = gepflegtes Understatement, Berlin = alltäglicher Lebenskampf. Unterhaltend und spannend ist, wie die Mädchen sich jeweils in der Welt der anderen behaupten und dazulernen, wie das Telefon zum Rettungsanker wird, und wie Louise ihren Vater und Charlie ihre Mutter kennen und lieben lernen, ohne dass die merken, was vor sich geht. Hervorzuheben ist neben dem ausdrucksstarken und facettenreichen Spiel von Floriane und Fritzi Eichhorn, das durchaus zu Herzen geht, die Verkörperung des Vaters durch Heiner Lauterbach und der Mutter durch Corinna Harfouch.

Bis auf einige Szenen (das inszenierte Toben der Kinder durch das schottische Ferienheim, kommentiert mit dem herbeigeholten Filmzitat "The same procedure as every year" und die dramatische Rettungsaktion bei Blitz und Donner, die eindeutig auf "action" zielt) sowie den offenbar unvermeidlichen Schluss-Song ist Joseph Vilsmaier ein guter Familienfilm gelungen, ohne zu moralisieren und die Unzulänglichkeiten der Eltern zu denunzieren. Vor der modischen Jugendsprache mag manchem Kästner-Freund grausen, dennoch: Die Drehbuchautoren haben die Sprache der Kinder von heute getroffen, ohne sich anzubiedern und ohne die Kästnersche Diktion zu verraten.

Der Film "Charlie & Louise" bewegt die Gemüter der Kinder genauso wie damals und heute noch Josef von Bakys "Doppeltes Lottchen". Beide Filme sind Zeugnisse ihrer Zeit. Unabhängig von gesellschaftlicher Realität und jeweils geltenden Normen stehen die Wünsche und Träume der Kinder im Vordergrund: die Sehnsucht nach einem lebendigen Familienleben, nach Vater und Mutter, die sich lieben und gern mit ihren Kindern zusammenleben.

Gudrun Lukasz-Aden / Christel Strobel

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 58-2/1994 - Interview - Die Entscheidung für den Filmschluss fiel in den Previews – nicht am Schneidetisch

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.CHARLIE & LOUISE – DAS DOPPELTE LOTTCHEN im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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