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Ausgabe 86-2/2001

HEIDI – 2001

Produktion: Vega Film AG / Télévision Suisse Romande / Avventura Films; Schweiz / Frankreich 2001 – Regie: Markus Imboden – Drehbuch: Jasmine Hoch, Martin Hennig, frei nach dem Kinderbuch von Johanna Spyri – Kamera: Peter Indergand – Schnitt: Bernhard Lehner – Darsteller: Cornelia Gröschel (Heidi), Paolo Villaggio (Großvater), Marianne Denicourt (Dete), Aaron Arens (Peter), Nadine Fano (Clara), Josef Bierbichler (Mann in Milchladen) u. a. – Länge 100 Minuten – Farbe – Verleih: MFA (35mm) – Altersempfehlung: ab 8 J.

Die Geschichte des Schweizer Mädchens ist so einfach wie rührend. Heidi wächst bei ihrem Großvater, dem Alm-Öhi, auf. Durch ihren Freund, den Geißen-Peter, lernt sie die Natur lieben, geht später nach Frankfurt, um dort der gelähmten Clara Gesellschaft zu leisten. Das letzte Kapitel der Geschichte endet in einer Sinfonie des Kitsches: Clara lernt mit Hilfe Heidis wieder laufen. In 50 Sprachen wurde der Roman aus dem Jahr 1880 übersetzt, die Weltauflage hat die 20 Millionen überschritten. 1920 entstand in den USA der erste (noch stumme) Heidi-Film, 1937 wurde das Rührstück von Regisseur Allan Dwan mit Shirley Temple zum zweiten Mal verfilmt. 1952 folgte eine Fassung unter der Regie von Luigi Comencini. Zwei Jahre später wurde von Regisseur Franz Schnyder eine Fortsetzung des schweizerischen Films unter dem Titel "Heidi und Peter" gedreht. Neu verfilmt wurde das Kinderbuch 1965 von Werner Jacobs als österreichische Produktion und 1967 von Regisseur Delbert Mann als deutsch-amerikanische Gemeinschaftsproduktion unter dem Titel "Heidi kehrt heim".

Weitere Neuauflagen waren 1958 ("A gift for Heidi"), 1974, 1975, 1978 ("Heidi in Town", "Heidi in the Mountains", "Heidi comes home", "The new Adventures of Heidi"), 1979, 1982 ("Heidi's Song) und 1995. Mit einer 52-teiligen japanischen Multi-Media-Produktion überrundete "Heidi" 1978 sogar ihre Erzkonkurrentin, die "Biene Maja". Eine Koproduktion von Disney und Berlusconi Communications war 1994 für den Golden Globe als beste Miniserie nominiert: Jason Robards, der als junger Mann dem mürrischen Großvater von Heidi für die Schweizer Verfilmung bei der Synchronisation in den USA seine Stimme lieh, spielte 40 Jahre später selbst den Alm-Öhi. 1989 drehte Christopher Leitch "Courage Mountain", der in Deutschland unter den Titeln "Nightwalker", "Heidi auf der Flucht" und "Heidi wird erwachsen" zu sehen war: Eine vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges spielende Weiterentwicklung der Alpensaga.

Eigentlich müsste man in Anbetracht der zahlreichen Heidi-Verfilmungen, insbesondere wegen der ausgiebigen Fernsehserie und des inzwischen durch und durch bekannten Inhalts des Romans von Johanna Spyri davon Abstand nehmen, einen weiteren Heidi-Film herauszubringen. Viele Veränderungen und Wandlungen hat der Originalstoff für Film und Fernsehen in der Vergangenheit bereits erfahren – der erste Heidi-Film des neuen Jahrtausends ist dabei sicher einer der radikalsten, da er nur frei nach Motiven des Romans gestaltet wurde: Clara ist nicht mehr gelähmt, kein Konsul Sesemann ist mit von der Partie, Geißen-Peter heißt nur noch Peter und kommt nicht aus den Bergen, sondern aus Boston – das Einzige, was ihn mit den Bergen verbindet, ist ein Mountainbike. Aus Fräulein Rottenmeier ist eine nervige Französisch-Lehrerin geworden. Tante Dete lebt in Berlin statt in Frankfurt und ist eine alleinerziehende Mutter, die über den Beruf als erfolgreiche Modeschöpferin ihre Tochter Clara vernachlässigt. Und Heidis Mutter leitet eine Pension.

Anderes ist geblieben: Heidi erlebt den tragischen Tod ihrer Mutter und als Waise wird sie zu ihrem Großvater, einem geheimnisumwitterten Einsiedler, gebracht, der so gar nicht davon begeistert ist, sich um seine Enkelin kümmern zu müssen. Aber selbstverständlich kann sie ihren kauzigen Großvater nach und nach für sich einnehmen. Kaum haben die beiden zueinander gefunden, muss sie nach Berlin zu ihrer Tante Dete ziehen, um deren Tochter Clara, einem schwierigen Einzelkind, Gesellschaft zu leisten. Traurig bleibt der Großvater zurück. Die Stadtzicke Clara ist alles andere als erfreut über ihre neue "Schwester" Heidi. In der Großstadt klettert Heidi aufs Dach, um die Sterne am Himmel zu sehen, denn für sie ist der am stärksten leuchtende Stern ihre Mutter – nur der Himmel über Berlin ist Wolken verhangen. Auch erträgt Heidi nur schwer Claras feindselige Attacken, mit denen diese aber eigentlich um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter buhlt.

Heidi reißt aus, ihre Sehnsucht nach den Bergen ist so groß, dass sie nur ein Ziel hat: Sie will zurück zu ihrem Großvater. Ihr Ausbruchsversuch schlägt fehl, verschafft ihr jedoch Respekt von Clara. Heidi unterstützt Clara und überzeugt Dete, mit ihrer Tochter zum Konzert von Claras Lieblingsgruppe zu gehen. Dete vergisst allerdings das Konzert, ein Geschäftsessen ist ihr mal wieder wichtiger. Am gleichen Abend steigt Heidi in den Zug Richtung Schweiz, zurück zum Großvater. Clara, zutiefst enttäuscht von ihrer Mutter, läuft ebenfalls davon. Schließlich findet Dete die verzweifelte Clara allein auf dem Bahnsteig. Endlich reden Mutter und Tochter miteinander, Dete will sich in Zukunft mehr um Clara kümmern. Und Heidi ist auf dem Weg zu ihrem Großvater – dummerweise ist Heidi im Zug eingeschlafen, Peter ist aber zur Stelle, um sie zu wecken und in Empfang zu nehmen.

Heidi ist längst ein Mythos: Die Berge und die Großstadt sind immer noch ein Gegensatz, allerdings werden sie nicht mehr gegeneinander ausgespielt, beide haben sie ihre Berechtigung, beide sind aber weder nur gut noch nur schlecht. Regisseur Markus Imboden und seine beiden Autoren Jasmine Hoch und Martin Hennig liefern eine rundum schlüssige Neuinterpretation des Klassikers: Alle Modernisierungen, die sie vorgenommen haben, strafen der Ansicht Lügen, dass Remakes per se gegenüber den berühmten Vorgänger-Versionen den Kürzeren ziehen müssen. Die Magie der Geschichte mit ihren Gefühlen von Trauer nach dem Tod der Mutter und dem Wunsch eines Kindes, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, lebt noch immer davon, das Herz eines alten Mannes zu erobern, der sich in der modernen Heidi-Story schuldig fühlt, weil er seine beiden Töchter vernachlässigt hat, um sich seinen Traum von Amerika zu erfüllen.

Die kleine Heidi hat noch immer das Herz auf dem rechten Fleck, aber sie weiß sich auch zu wehren, ist längst nicht mehr nur das naive Mädel aus den Bergen. Und wenn sie ein paar Schwierigkeiten hat, eine E-Mail zu versenden, findet sie stets Menschen, die ihr helfen. Die Spannung, ob Heidi es schafft, wieder in ihre geliebten Berge zurückzukehren, wird durch den ersten gescheiterten Ausbruchsversuch geschickt gesteigert. Selbstverständlich muss auch "Heidi" anno 2001 ein Happy End haben, bei dem die Erwachsenen erkennen, dass die Verantwortung für Kinder wichtiger ist als alles andere: Der Großvater kehrt aus den Bergen ins Dorf zurück und übernimmt die Pension seiner verstorbenen Tochter – und Tante Dete schafft es tatsächlich, Urlaub mit Clara zu machen, ganz ohne Handy.

Manfred Hobsch

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 90-2/2002 - Interview - "Man muss Vertrauen in sein Kind haben"
KJK 89-2/2002 - Hintergrund - "Heidi"
KJK 87-2/2001 - Kinder-Film-Kritik - Heidi
KJK 86-2/2001 - Interview - "Eine relativ klare Geschichte, die so emotional ist"

 

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