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Ausgabe 103-3/2005

KLASSENLEBEN

KLASSENLEBEN

Produktion: S.U.M.O Film, in Koproduktion mit RBB / Arte; Deutschland 2005 – Regie, Buch und Produktion: Hubertus Siegert – Kamera: Armin Fausten – Schnitt: Bernd Euscher – Schüler/innen: Christian, Dennis, Jacqueline, Jannis, Jennifer, Johanna, Lena, Leo, Lewin, Luca, Lukas (1), Lukas (2), Marvin, Max-Jaron, Merten, Natalie, Nils, Ricarda, Sara – Lehrer/innen: Gudrun Haase, Ingeborg Nebl-Koller, Birgit Hartmann, Michael Kollwig, Fred Ziebarth – Länge: 90 Min. – Farbe – Verleih: Piffl – Altersempfehlung: ab 12 J.

Zumindest in den Industrieländern ist der Schulbesuch zum unabdingbaren Bestandteil der Lebenswelt aller Kinder geworden. Sie werden dort gemeinsam auf die Welt der Erwachsenen vorbereitet, wobei diese Aufgabe vielfach zunehmend der reinen Wissensvermittlung und den Ansprüchen der Wirtschaft geopfert wird. Kaum ein Erwachsener, an dem die Schulzeit nicht spurlos vorübergegangen ist, kaum ein Kind, das ausnahmslos gerne in die Schule geht. Gleichwohl ist Schule längst nicht gleich Schule und wer nicht täglich dorthin muss, weiß nur wenig darüber, was heutzutage in solchen Institutionen abgeht, selbst die Eltern schulpflichtiger Kinder nicht. Spielfilme sind nur bedingt geeignet, den wirklichen Schulalltag zu reflektieren, Dokumentarfilme haben sich bisher nur selten an dieses schwierige Sujet gewagt.

An dieser Stelle setzt der Berliner Filmemacher und Produzent Hubertus Siegert mit seinem Film "Klassenleben" an. Ein halbes Jahr lang, von Februar bis Juni 2004, begleitete er mit einem kleinen Team eine Klasse Elfjähriger an der Fläming-Grundschule in Berlin-Schöneberg. Das Besondere an dieser Schule ist ihr beispielhaftes Integrationsmodell mit weltweitem Renommee, das nicht nur dem traditionellen, viergeteilten deutschen Schulsystem (inklusive Sonderschule) zuwiderläuft, sondern sich auch die Integration von Kindern mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" zum Ziel gesetzt hat. In der Klasse 5d, die im Film "dokumentiert" wird, sind von den 20 Kindern vier behindert, eines davon sogar schwerst mehrfach behindert. Trotz solcher vermeintlichen Einschränkungen des Unterrichts erweist sich diese Klasse als hoch motiviert mit überdurchschnittlichem Niveau und einem Gemeinschaftssinn, den man anderswo oft vergeblich suchen wird.

Der Film begleitet die Kinder beim Lernen, bei ihren Erkundungen, beim Spielen im Pausenhof, bei ihren Ausflügen, beim Theaterspielen, in ihrem sozialen Verhalten untereinander. Er zeigt ihre Aha-Erlebnisse, ihre Lernerfolge, ihren Bewusstwerdungsprozess, ihre Zweifel, ihre Sorgen und Nöte. Er verschweigt keineswegs die unangenehmen Momente der Schule, die Mühsal des Lernens, nicht einmal die Ungerechtigkeiten einer strengen, aber toleranten und um Kommunikation bemühten Klassenlehrerin. Eine Dokumentation über das Modell der Fläming-Schule, die lediglich für Fachleute von Interesse wäre, ist "Klassenleben" nicht. Der Film gibt weder hinreichend Auskunft über das Modell des integrativen Lernens noch über die Arbeit der engagierten Fachpädagoginnen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Kinder und ihr Leben in der Klasse. Dementsprechend arbeitet er auch mit filmischen Mitteln, enthält sich jeden Kommentars, lässt die Bilder und die Ereignisse für sich sprechen, beobachtet ausgiebig und ohne Aufdringlichkeit, weckt Neugier, schafft unmittelbare Anteilnahme an den Erlebnissen und Erfahrungen der Schulkinder.

Seinen Anspruch, zu zeigen, wie es in der Schule heute zugeht, erfüllt der Film allerdings nur teilweise, aber das gereicht ihm keineswegs zum Nachteil. Einesteils erinnert er tatsächlich daran, was Lernen bedeutet, dass es etwa auch Notenzwänge und Ungerechtigkeiten gibt, andererseits ist diese Schule einzigartig in der deutschen Schullandschaft, nur bedingt vergleichbar in ihrem Anspruch, gemeinsame Ziele auch gemeinsam anzugehen und vor allem hohe soziale und politische (im etymologischen Sinn des Wortes) Kompetenz zu erlangen.

Nun lernt man auch durch Vorbilder und Vergleiche. In diesem Sinn richtet sich "Klassenleben" als Beitrag zur Verbesserung der Schule in erster Linie an Erwachsene, seien es Eltern von schulpflichtigen Kindern, pädagogische Fachkräfte oder allgemein an der Entwicklung der Gesellschaft Interessierte. Zugleich ist der Kinofilm auch für Schüler jeden Alters selbst sehenswert, gerade weil sie sich teilweise in den Protagonisten und ihren Erfahrungen wieder erkennen werden und sich zugleich fragen dürften, ob sie nicht auch einen (noch) besseren Unterricht verdienen, der nicht nur ihr Fachwissen vermehrt, sondern umfassend Körper, Geist und Seele anspricht. Schließlich ist das Modell der Integration keineswegs nur auf Behinderte beschränkt, es lässt sich auf alle so genannten Randgruppen unserer Gesellschaft anwenden.

Holger Twele

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 103-3/2005 - Interview - ... von der Stimmung des Films und ihrer eigenen Ausstrahlung als Klasse sehr beeindruckt

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.KLASSENLEBEN im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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Ausgabe 103-3/2005

 

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