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Ausgabe 107-3/2006

Den Kindern ihr Märchen geben

Gespräch mit Anne Wild, Regisseurin, über ihren neuen Film "Hänsel und Gretel"

(Interview zum Film HÄNSEL UND GRETEL – 2006)

KJK: Sie sind von der ZDF-Redakteurin Dagmar Ungureit, die zusammen mit Ernst Geyer das Märchenpaket-Projekt entwickelt hat, und der Produzentin Ingelore König angesprochen worden, "Hänsel und Gretel" zu inszenieren. Passte ein Märchenfilm in Ihre Pläne?
Anne Wild: "Ich war sofort begeistert, weil ich schon immer unbedingt einen Film im Wald machen wollte. 'Hänsel und Gretel' kam da genau richtig. Außerdem hat mich das Archetypische an dieser Geschichte gereizt. Auf Mythen beruhen ja viele Filme im Kino und ich denke, dass Mythen ein wichtiger Schatz unserer Kultur sind. Bei uns in Deutschland hat man oft große Angst davor, mit ihnen in Kontakt zu kommen, weil sie in der Geschichte, besonders im 'Dritten Reich', sehr missbraucht worden sind. Das ist die eine Seite und die andere ist eine ganz naive Freude an Märchen an sich.
Ich muss noch etwas dazu sagen, ich hatte letztes Jahr an der Andrzej Wajda-Master School in Warschau ein Stipendium, als dieses Angebot kam. Und da habe ich meinen polnischen Mentor, Wojciech Marczewski, gefragt, ob ich das machen soll, ein Märchen für Kinder. Er hat sofort gesagt: 'Ja, natürlich! Eigentlich sind doch alle deine Filme Märchen.' Ich fand das interessant, zumal ich das selbst nie so gesehen habe."

Welche Aspekte bei "Hänsel und Gretel" waren Ihnen besonders wichtig?
"Erst einmal der Wald als Ort der Angst, der Bedrohung, der Verlorenheit und gleichzeitig als Ort der Geborgenheit. Dass beides existiert, dass Wald – wie Natur überhaupt – diese Ambivalenz hat. Natürlich hat mich auch dieser Gegensatz, auf der einen Seite das Paradiesische dieses Hexenmahls, diese Verführung, und auf der anderen Seite eben das Verderben, die Bedrohung fasziniert. Und diese namenlosen Ängste, die man als Kind hat und nicht benennen kann und die ich versucht habe, in diese Dunkelheit, diese Schatten zu übersetzen. Es ist ja eine innere Angst, und sie wird besiegt in dem Märchen. Das ist sehr wichtig."

Die Frage, ob man darstellen kann, dass die Hexe in den Ofen geschoben wird, ist unter dem Fachpublikum der Berlinale heftig diskutiert worden. Die Kinder im Kino wiederum schienen es ersehnt zu haben. Sie atmeten regelrecht auf, waren erleichtert, als die Hexe "ihre gerechte Strafe" bekam. Wie haben Sie sich dieser Problematik genähert?
"Es gab im Vorfeld starke Ressentiments, die Hexe verbrennen zu lassen. Man hat sofort unglaubliche Bilder im Kopf und es ist schwierig, damit umzugehen. Andererseits gab es das Argument, man dürfe den Kindern nicht ihr Märchen nehmen. Weil es einfach diese Geschichte so gibt.
Es wurde auch in der Redaktion sehr kontrovers diskutiert, wie viel man zeigen darf, ob die Hexe nur in den Ofen hineinfällt oder ob Gretel sie wirklich stoßen darf. Bei mir war das eine Entwicklung. Jetzt denke ich aber, dass es sehr wichtig ist, dass es Gretel aus eigener Kraft schafft, das Böse, das die Hexe repräsentiert, zu besiegen. Die Hexe ist eben kein Mensch, sie ist Repräsentantin des Bösen. Man muss darauf vertrauen, dass dieses archetypische Märchen eine so allgemeingültige Größe hat, dass man den Kindern ihr Märchen geben darf. Allerdings muss man darauf achten, dass die Bilder, die man wählt, genau das Richtige erzählen, dass sie nicht viel Raum geben, dass etwas anderes interpretiert wird. Zum Beispiel entstand kurzzeitig die Idee, auch noch Rauch aufsteigen zu lassen, von der Hexe. Das war für mich etwas, was in dem Märchen nicht vorkommt und ich auch nicht gern zeigen wollte.
Übrigens stand für mich von Anfang an fest, dass ich keine Knusperhexen-Oma möchte. Ich wollte die große, dunkle Frau, eine Hexe, die die Ambivalenz aus Verführung und Gefahr verkörpert und auf die man seine inneren Ängste projizieren kann. Das ist vielleicht der stärkste Zugriff auf das Märchen, obwohl dort auch nicht genau steht, wie die Hexe aussieht. Es sind ja nur die vielen Abbildungen in den Büchern, die eine Buckelhexe suggerieren."

Die Kinder waren beim Filmgespräch der Meinung, dass die Hexe und die Stiefmutter zur gleichen Zeit gestorben wären. Das fand ich sehr interessant. Was symbolisiert die Stiefmutter für Sie?
"Die Figuren im Märchen sind sehr archetypisch, sehr holzschnittartig. Damit umzugehen war ungewohnt für mich, fand ich aber sehr reizvoll. Sonst versucht man im Drehbuch, einer Figur Vielschichtigkeit und dem bösen Menschen irgendwie auch einen guten Wesenszug zu geben, aber beim Märchen geht es gerade darum, das nicht zu tun. Böse ist böse und gut ist gut. Und die Stiefmutter verkörpert eben auch so wie die Hexe das Böse. Sie setzt die Kinder aus, sie überredet den Vater dazu. Trotzdem, wenn man das Märchen im Großen betrachtet, provoziert sie mit dem Aussetzen der Kinder eine positive Entwicklung bei ihnen. Das ist ja bei Märchen das Verrückte, dass dann alles zum guten Ende geführt wird, dass ein Schatz winkt, aber eben auch ein gutes Ende in der inneren Entwicklung, dass die Menschen einen Schritt tun.
Übrigens ist auch für mich die Figur der Hexe mit der der Stiefmutter verschmolzen, weil diese bösen Frauenfiguren doch viel miteinander zu tun haben."

War es schwer für Sie als Frau, böse weibliche Wesen so ausführlich darzustellen?
"Das war spannend, aufregend, toll. Und es gibt ja in dem Märchen durchaus auch die andere Seite: nämlich Gretel.
Alles in allem muss ich sagen, so interessant es für mich war, in diesem Märchen holzschnittartige Figuren zu inszenieren, so sehr habe ich es bedauert, dass gerade bei den Frauen eine psychologische Erzählweise nicht gefragt war. Mich als Filmemacherin interessiert es schon, warum die Stiefmutter so ist und warum die Kinder ausgesetzt werden, welche Bedeutung dies für ihre Entwicklung hat."

Wie haben Sie diese besonderen Bilder gefunden, die Farben, das Licht?
"Das habe ich schon meinem großartigen Kameramann Wojciech Szepel zu verdanken. Ich glaube wirklich, dass er 'andere Augen' hat. Er übersetzt die Dinge, die ich empfinde, in Bilder, die auch eine Offenheit lassen für Gefühle. Für ihn war es genauso spannend wie für mich, dass der Wald in diesem Film so eine wichtige Rolle spielen sollte. Und eben nicht der Sommerwald, nicht der Winterwald, sondern der Wald im März, April. Da ist die Not immer am größten gewesen, weil die Vorräte aufgebraucht waren und wirklich nichts mehr zum Essen da war. Es ist die karge Jahreszeit, der Wald ist eher unwirtlich. Im Lied heißt es: Es war so finster und auch so bitterkalt. Das musste deutlich werden."

Wie haben Sie mit dem Kameramann gearbeitet?
"Manche Bilder waren einfach Geschenke, wenn zum Beispiel morgens Nebel im Wald stand. Wir wissen beide genau, was wir suchen und sind offen dafür, was passiert. Im Vorfeld sammeln wir Bilder, wir haben einen riesengroßen Katalog von Fotos und Abbildungen, die für uns irgendetwas mit dem Film zu tun haben. Das ist eine ganz wichtige Phase in unserer Arbeit, wo wir uns zusammensetzen und die Bilder anschauen und darüber sprechen, was sie mit unserem Filmprojekt zu tun haben. Bei manchen geht es dabei nur um eine Farbe oder um eine Stimmung, bei anderen um ein bestimmtes Licht. Wojciech Szepel ist dabei für mich der wichtigste Partner und es ist wirklich eine Partnerschaft, weil ganz viele Ideen und Vorschläge von ihm kommen, wie man die Geschichte visuell umsetzen kann. Wir inspirieren uns gegenseitig und kennen uns auch sehr gut. Ich habe ja alle meine Filme mit ihm gedreht, z. B. 'Mein erstes Wunder' (2002). Es ist eine Mischung aus Offenheit für den Moment und eben sehr viel Vorarbeit, dass man weiß, wo man hin will. Wichtig ist natürlich auch, dass man sich die Location vorher gemeinsam ansieht und auch da schon Motive auswählt. Bei 'Hänsel und Gretel' war nur schwierig, dass wir uns den Wald im Winter, im tiefsten Schnee anschauen und dabei vorstellen mussten, wie er im Frühjahr aussehen wird."

Im deutschen Kinderfilm trifft man bei phantastischen Stoffen oftmals so ein Kitschdesign an. Das finde ich bei "Hänsel und Gretel" sehr gelungen, dass die gesamte Ausstattung, selbst der Schatz so etwas Kunstvolles hat.
"Dafür habe ich mich sehr eingesetzt. Ich wusste genau, wie der Schatz aussehen muss. Anfangs hatten wir auch so grauenhafte Schatzobjekte, das ist für mich kein Schatz gewesen. Ich wollte gern, dass Gretel nur ein paar wenige kostbare Dinge in das Haus stellt oder dass sie den Ring überzieht oder dass die Edelsteine durch die Stube springen. Darum habe ich sehr gekämpft, hatte aber auch gute Partner in Wojciech Szepel und in der Szenenbildnerin Martina Brünner. Mit ihr arbeite ich auch schon lange zusammen. Sie ist so begeisterungsfähig und reißt einen immer mit, war mit großem Spaß dabei, diese Märchenwelt zu kreieren, und arbeitete mit einer unglaublichen Liebe zum Detail. In der Vorbereitungsphase hat sie große, abstrakte Entwürfe vorgelegt, mit den Farben und Materialien, die sie sich vorstellte, und mit kleinen Objekten. Martina Brünner arbeitet sehr assoziativ und das kommt mir entgegen. Sie kennt meinen Geschmack und steigt darauf ein."

Fasziniert war ich auch von der Musik, sie unterstreicht das Mystische, Märchenhafte auf eine ganz eigenwillige Weise.
"Mit der Musik von der norwegischen Komponistin Mari Boine ist ein großer Traum für mich in Erfüllung gegangen. Ich kannte die Lieder von ihr und fand, das ist die Musik für meinen Film. Mit vereinten Kräften haben wir dann versucht, sie für diesen Film zu begeistern und Geld zur Finanzierung zu besorgen. Dafür haben sich auch stark die Produzentin und die Koproduzenten eingesetzt. Es ist wunderbar, wenn man mit jemandem arbeiten kann, den man sehr bewundert. Das ist wirklich eine Ehre. Mari Boine hat ja auch hier ein großes Publikum. Sie sieht den Grund darin, dass die Menschen in Deutschland eine große Sehnsucht nach Wurzeln haben und deshalb ihre ethnische Musik, die ja sehr verwurzelt ist, so mögen."

Sie lassen sich viel Zeit in Ihrem Film für Bilder, arbeiten mit langen Einstellungen und wenig Dialogen. Das entspricht ja nicht gerade den heutigen Sehgewohnheiten. Hatten Sie Angst, dass Kinder diese Langsamkeit nicht aushalten?
"Ich habe immer daran geglaubt, dass man Kindern im positiven Sinne viel mehr zumuten kann als man gemeinhin denkt, und dass sie – egal wie verdorben sie sind – immer noch den Zugang zu diesen Gefühlen und diesen archetypischen Bildern haben. Natürlich habe ich dann trotzdem vor der Premiere gezittert, ob es den Kindern gefallen wird, ob sie wirklich einsteigen können. Deshalb habe ich mich über die Reaktionen während der Vorstellungen – die gespannte Stille, das Aufatmen, der Szenenapplaus – sehr gefreut und auch über das Interesse bei den anschließenden Filmgesprächen. Kinder sind eben viel klüger, als wir immer annehmen."

Mit Anne Wild sprach Barbara Felsmann

 

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