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Ausgabe 105-1/2006

"Es gibt leider nicht viele Saimirs"

Gespräch mit Francesco Munzi, Regisseur des italienischen Spielfilms "Saimir"

(Interview zum Film SAIMIR)

KJK: Ihr Film wurde 2004 auf der Biennale in Venedig als bester Debütfilm ausgezeichnet. Wird er auch in die Kinos kommen?
Francesco Munzi: "Ich hoffe es. Dieser Film ist staatlich finanziert worden und hat – obwohl er auf etlichen internationalen Festivals mit Preisen bedacht wurde – sehr große Schwierigkeiten, einen Vertrieb zu finden. Auch im Fernsehen hat dieses Thema bei uns kaum eine Chance. Vielleicht findet er in Italien einen Vertrieb, aber dann sicher einen ohne finanziellen Rückhalt. Und wir wissen alle, Kino ist eine Industrie, ein Geschäft, und wenn das Geld für die Werbung fehlt, wird so ein Film nur von einem Fachpublikum wahrgenommen. Dann ist er ein Nischenfilm für Film-Kritiker."

Ein typischer Festival-Film ...
"Genau. Aber ich muss sagen, auf den Festivals, die zugleich Publikums-Festivals waren, wurde er auch jenseits des Fachpublikums von den 'normalen' Zuschauern sehr gut aufgenommen. Ich glaube also und hoffe, dass dieser Film sein Publikum im Kino findet."

Ich drücke Ihnen die Daumen, denn mich hat Ihr Film richtig begeistert. Wenn ich es recht sehe, knüpfen Sie damit an den italienischen Neorealismus an. Haben Sie dort Ihre Vorbilder?
"Also ich bin aufgewachsen mit dem großen italienischen Kino, der goldenen Zeit des italienischen Kinos, die, sagen wir mal, so bis Ende der 60er-Jahre ging. Denken Sie nur an Michelangelo Antonioni, Federico Fellini, Luchino Visconti, Roberto Rossellini, Vittorio de Sica, Luigi Zampa oder Pier Paolo Pasolini. Ich weiß nicht, ob das, was ich gemacht habe, neorealistisch ist, aber ich bin des italienischen oder europäischen Films der letzten Zeit ein bisschen überdrüssig geworden, weil er nichts mehr erzählt. Für mich ist Film ein Fenster zur Welt, eine Erzählung, die einen Raum öffnet, und im Augenblick gibt es keine konkrete Bewegung oder Schule, die für mich interessant ist. Ich mag einzelne Regisseure wie Gianni Amelio, Marco Ferreri und die Brüder Dardenne, also Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Belgien."

Wie kam es zur Wahl des Themas von "Saimir"?
"Vor diesem Spielfilm habe ich etliche Kurzfilme gedreht, die sich mit Ausländern beschäftigen und besonders wichtig in diesem Zusammenhang war ein geplanter Dokumentar-Film über einen Generationenkonflikt in einer Zigeuner-Familie, für den ich in einem Auffanglager in Rom recherchiert habe. Dort habe ich gesehen, wie schwer es ist, mit einer bestimmten Mentalität aus bestimmten Situationen herauszukommen, wie gefangen man da ist. Auf Grund dieser Erfahrung habe ich dann den Versuch gemacht, die Gefühle eines Jugendlichen in einer solchen Situation auszudrücken, weil ich denke, dass der Wunsch, aus einer eingefahrenen und verfahrenen Situation herauszukommen, bei einem jungen Menschen, der die Veränderungen in seinem Umfeld sehr sensibel und aufmerksam wahrnimmt, besonders groß ist. Und die Illegalen haben ja keine Rechte. Sie sind Opfer. Gelegentlich wird ihre Situation in den Zeitungen erwähnt – in Meldungen, die die dramatische Komplexität des Sachverhalts natürlich nicht wiedergeben. Als ich angefangen habe, den Film zu drehen, hatte ich zuerst auch eine vorgefertigte Meinung und während des Drehens musste ich diese ändern – ich denke, in Italien werden diese Themen unter den Teppich gekehrt, aber das passiert wohl in ganz Europa."

In Ihrem Film spielt Sprache eine wichtige Rolle ...
"Sie haben Recht, die Sprache ist in diesem Film extrem wichtig. Wir haben von vornherein in zwei Sprachen gedreht, in Italienisch und Albanisch, denn Saimir spricht ja beides, albanisch mit seinem Vater, italienisch mit den anderen, wobei sein Italienisch gebrochen ist, nicht wirklich richtig. Und hier tauchen sehr viele Personen auf, die sich nicht oder nicht wirklich verstehen und aneinander vorbeireden."

Welche Sprache hat eigentlich das getäuschte und zur Prostitution gezwungene junge Mädchen gesprochen, deren Geschichte für Saimir das Fass zum Überlaufen bringt?
Die Prostituierte spricht russisch und einige von den Jugendlichen, die beim Einbruch in die Villa mitmachen, sprechen Romanes. Aber weil Saimir sie nicht versteht, habe ich das auch nicht übersetzen lassen. Was sie sagen, spielt eigentlich auch keine Rolle, es werden nur ein paar Informationen ausgetauscht – aber genau das zeigt wieder die Situation von Saimir, der immer außen steht.

Mindestens genau so wichtig wie die Sprache scheint mir aber die Sprachlosigkeit, denn die Unfähigkeit zur Kommunikation zwischen Edmond und seinem Sohn entscheidet letzten Endes über den Ausgang des Films, oder?
"Ganz genau. Saimir versucht ja, mit allen Mitteln aus einer Situation herauszukommen, in der zwischen ihm und seinem Vater kein Dialog mehr stattfindet. Die Sprachlosigkeit des Vaters, seine ganze Mentalität ist typisch für die albanische Gesellschaft, aus der er stammt. Saimir aber wächst in Italien in einer ganz anderen Realität auf und es ist gefährlich, wenn es in dieser Situation zwischen ihnen keinerlei Austausch über die verschiedenen Verhaltensweisen und Erfahrungen mehr gibt."

Wenn man an den Vater, an dessen Freundin, die junge Prostituierte und vor allem natürlich an die Hauptperson denkt, ist "Saimir" für mich auch ein Film über die Einsamkeit.
"Ja, sicher, aber zum anderen – und das scheint mir noch wichtiger – ist es auch ein Film über die Geburt oder Wiedergeburt eines Menschen."

Haben Sie eine besondere Beziehung zur Farbe Blau?
"Ich weiß nicht. Ich gehe noch nicht zum Psychoanalytiker. Aber mir gefällt die Farbe. Es ist die Farbe des Meeres."

Ist sie auch ein Ausdruck für Hoffnung?
"Ich betrachte 'Saimir' als einen Film der Hoffnung, des Willens – es gibt leider nicht viele Saimirs, aber mit diesem Film wollte ich ein Zeichen für Optimismus setzen. Und die Menschlichkeit."

Warum ist Mishel Manoku, Ihr Saimir, nicht nach Berlin mitgekommen?
"Ich weiß nicht, wie viel ich davon erzählen kann. 'Saimir' ist Albaner und nach dem Erfolg in Venedig versucht er weiter als Schauspieler zu arbeiten, aber er hat Probleme mit seiner Aufenthaltserlaubnis. Deshalb ist er nicht mitgekommen. Und deshalb freue ich mich, dass ich so einen Film gedreht habe, weil es ja wirklich so ist, dass Menschen wie er Menschen zweiter Klasse sind. Er hat vorher noch nie gespielt, er war Schüler. Ich habe lange gesucht. Erst in verschiedenen Auffanglagern und dann an der Küste von Latium, wo ich einige hundert Gespräche mit illegalen Einwanderern geführt habe. Das Problem war, dass die Familien es nicht wagten, ihre Erlaubnis für Filmaufnahmen mit ihren Söhnen zu geben, weil sie Angst hatten, dass man sie dann aufspürt. Dann bin ich nach Albanien gefahren und habe weitere 400 Jugendliche in den Schulen getestet, im Endeffekt aber habe ich den 17-jährigen Mishel dann auf der Straße in Tirana gefunden. Er hatte genau das Gesicht und die Ausstrahlung, die mir für meinen Protagonisten vorgeschwebt hatte. Und das Italienisch war kein Problem, weil die meisten Kinder in Albanien das italienische Fernsehprogramm sehen."

Xhevdet Feri, der wunderbare Darsteller von Saimirs Vater Edmond, stammt wahrscheinlich auch aus Albanien?
"Ja, er ist dort einer der bekanntesten Schauspieler, vor allem auf dem Theater. Er war auch Abgeordneter im albanischen Parlament."

Wie sind Sie zum Film gekommen?
"Ich habe erst mal Politologie studiert und mit 23 Jahren einen Abschluss in Geschichte gemacht. Ich wollte schon vorher gern Regisseur werden, aber ich hatte auch ein bisschen Angst davor. Dann habe ich doch hinter dem Rücken meiner Familie die Aufnahmeprüfung für die Filmschule 'centro sperimentale di cinematografia' in Rom gewagt, das ist die nationale Filmschule in Italien, und bestanden. 1998 verließ ich die Schule. Ich habe dann etliche Kurzfilme gedreht, unter anderem 'Nastassja', einen Dokumentarfilm über ein russisches Mädchen, das die Familie verlassen hat, sich in einen italienischen Punk verliebt und versucht, hier klar zu kommen."

Was bedeutet Kindheit und Jugend für Sie?
"Kindheit und Jugend formen den Menschen, sie sind grundlegende Lebensabschnitte, die entscheiden, was aus einem wird. Ich mag den Blickwinkel der Jugend und ich mag es, Geschichten aus dieser Perspektive zu erzählen."

Gibt es ein nächstes Projekt?
"Ich bin am Schreiben für einen zweiten Film. 'Saimir' hat mir mehrere Möglichkeiten eröffnet, aber ich muss gestehen, ich bin ein langsamer Schreiber, und ich weiß immer noch nicht, ob mir das Projekt gefällt oder nicht. Sagen wir, ich befinde mich im Stadium der Konfusion."

Mir gefällt an Ihrem Film "Saimir" besonders die Zeit, die Sie sich nehmen, die Ruhe der Einstellungen, und dass alle wichtigen Sachen sich in den Gesichtern abspielen.
"Wenn ich einen Film schreibe, mache ich immer eine Übung. Ich versuche, die Szenen erst mal ohne Dialog zu schreiben. Wenn ich das Gefühl habe, dass die Figuren immer noch zu viel sprechen, dann schreibe ich den Dialog noch mal, weil ich denke, es ist falsch, wenn eine Szene nur durch die Worte funktioniert."

Welches Verhältnis haben Sie zur Musik?
"Mein Verhältnis zur Musik ist eher schwierig. Es ist dadurch belastet, dass Musik die Bedeutung einer Szene total verändern kann. Die wichtigsten Entscheidungen für diesen Film waren einmal die Auswahl der Schauspieler und dann, die richtige Musik dafür zu finden. Der Einsatz der Musik ist ja sehr wichtig, er kann einen auf eine vollkommen falsche Fährte locken. In Bezug auf die Musik habe ich ein italienisches Motto beherzigt, das da heißt: Wenig, aber gut."

Interview: Uta Beth

 

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