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Ausgabe 113-1/2008

"Die Zuschauer sollen sich in den Film verlieben"

Gespräch mit Autorin und Regisseurin Sylke Enders über ihren Film "Mondkalb"

(Interview zum Film MONDKALB)

Sylke Enders, geboren 1965 in der Stadt Brandenburg, mogelte ein bisschen bei ihrem Alter, um ab 1996 noch ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin absolvieren zu können. Zuvor hatte sie von 1983 bis 1987 Soziologie an der Humboldt Universität Berlin und von 1989 bis 1994 Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der HdK Berlin studiert. Nach vier Kurzfilmen hatte sie ihr Kinodebüt mit "Kroko" (2003; Bundesfilmpreis in Silber), einem Film über Gewaltbereitschaft bei Mädchen, gefolgt vom dffb-Abschlussfilm "Hab' mich lieb" (2004) über eine unspektakuläre Gruppe junger Menschen in Berlin und "Schlitten auf schwarzem Schnee" (2005).

Bei den Hofer Filmtagen 2007 hatte ihr neuer Film "Mondkalb" Premiere: Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis zieht Alex (Juliane Köhler) in die neuen Bundesländer und will in dem Ort, aus dem ihre Großmutter stammt, ein neues Leben beginnen. Doch die Frau stößt in ihrer Umgebung auf Ablehnung – bis sie auf den zwölfjährigen Tom (Leonard Carow) und seinen redseligen Vater Piet (Axel Prahl) trifft und ihr Leben noch einmal überdenkt. Piet, der als Fahrschullehrer arbeitet und Vögel liebt, und sein Sohn Tom lassen sich einfach nicht abwimmeln. Sie feiern gemeinsam Geburtstag und retten kleine Ferkel. Und sie zwingen Alex, Stellung zu beziehen. Sie wagt sich aus ihrem Schneckenhaus und stellt erneut fest, wie dünn das Eis und wie zerbrechlich das Glück ist.

Vor allem ist es die Geschichte von zwei Menschen mit unterschiedlichen Lebensauffassungen, deren Liebe aufeinander prallt. Aber auch andere Themen, wie Gewalt, Kindererziehung oder auch der Konflikt zwischen Wessis und Ossis werden angesprochen. Die rund eine Million Euro teure Produktion "Mondkalb" kommt im Frühjahr 2008 in die Kinos.

KJK: Ihr Film "Mondkalb" ist ein Film über Außenseiter, die alle das Vertrauen ins Leben verloren haben oder zu verlieren drohen. Was hat Sie an dieser Geschichte gereizt?
Sylke Enders: "Ich möchte da gleich widersprechen, mir ist das zu einfach, sie nur als Außenseiter darzustellen. In den 'Mondkalb'-Figuren stecken ganz viele Anteile, die auch in den Bürgern vorhanden sind. Es ist natürlich bequem, wenn man diese Anteile von sich abspaltet, denn wer will schon zweifeln oder sich aufgeben und ständig gegen Depressionen ankämpfen. Das ist nicht nur ein Problem der Filmfiguren, sondern ein Grundproblem der Menschen. Die Reaktionen der Zuschauer zeigen auch, dass sie bewegt sind, sie wollen etwas ganz genau verstehen, aber sie bekommen keine ganz klaren Antworten und mitunter sind sie darüber auch verärgert. In der Diskussion konnte ich sie damit wieder versöhnen, dass dies ihre Interpretation ist. Die Zuschauer entscheiden darüber, was ihnen diese Figuren bedeuten. Mir geht es ja nicht um eine völlig verrückte Frau oder um einen Alkoholiker, es geht nicht um solche Figuren, aber auch die gehören zu unserem Alltag. Es ist schon so, dass viele Zuschauer eine Eindeutigkeit fordern, die mein Film nicht erfüllt."

Das liegt natürlich an der Mehrzahl der anderen Filme, die genau das anbieten ...
"... ich verstehe es nicht, denn Menschen sind nie eindeutig und ihre Gefühle sind niemals stabil."

Bei Ihrem Film ist mir die Sprachlosigkeit der Figuren aufgefallen, die Dialoge sind knapp, als wollten die Personen nichts von sich preisgeben, vieles wird zunächst über Bilder und Gesten erzählt und später erst mit Worten "erklärt": Sollen die Bilder wichtiger als die Worte sein?
"Normalerweise bin ich selbst eine Quatschtante, insofern passen die knappen Dialoge eigentlich nicht zu mir. Sicherlich trifft dies auf die Hauptfigur des Films und das Kind zu, die beiden zeichnet Sprachlosigkeit aus, aber da sind auch noch andere Figuren wie der Vater des Kindes, der im Kontrast dazu äußerst gesprächig ist, allerdings niemals zum Wesentlichen kommt. Mit dem Reden überspielt oder verspielt er seine Hoffnungen. Das ist doch die Grundform unserer Dialoge in Familien, es gibt nämlich keine ehrlichen Dialoge und keine Gefühlsregungen, wo es am meisten schmerzt. Gerade Dokumentarfilme sind ein gutes Beispiel dafür, die wahren Gefühle nicht preiszugeben. Das hat mit Scham und Schuld zu tun. In der Kommunikation werden die Erwartungen regelmäßig nicht erfüllt. In meinem Film kommt das besonders drastisch zum Ausdruck, weil das Kind nicht weiß, wie es sich ausdrücken soll, aber ungeheuerlich viele Gefühle hat. Dem Kind kann man nichts vormachen und dadurch bringt es die Hauptfigur auch dazu, die eigenen Bedürfnisse mal wahrzunehmen. Im Grunde will sie sich nicht verstecken, sondern Geborgenheit, aber das hat sie von sich abgespalten, aus Angst davor, dass ihre Art zu lieben zu Auseinandersetzungen und extremen Konflikten führen könnte. In der Realität ist es eher selten, dass jemand aus seinem Schneckenhaus befreit wird."

Schon in Ihrem Film "Kroko" gehörte es zum guten Ton, unter keinen Umständen Gefühle preiszugeben: Warum haben in Ihren Filmen die Figuren Angst vor Gefühlen?
"Ich fand für mich selbst die ersten Antworten nicht in Filmen, sondern in der Literatur. Warum finden wir nicht die richtigen Worte für Trost? Das sind Diskrepanzen, die mich bewegen und berühren. Ich hoffe, dass Worte nicht mit Taten verwechselt werden. Diesem Wirrwarr von Zwischenmenschlichsein kann ich manchmal auch komische Seiten abgewinnen, viele Situationen sind nur mit Humor zu ertragen."

Für mich gibt es noch eine andere Verbindung zwischen "Kroko" und "Mondkalb". Wieder steht eine negative Figur im Mittelpunkt und wieder werben Sie um Verständnis für diese Person: Sind negative Figuren die interessanteren?
"Ich bewerte die gar nicht so streng und will sie nicht stigmatisieren. Der Zuschauer hegt sicher eine Menge an Vorurteilen gegenüber diesen Figuren, aber ich hoffe, dass sich das im Verlauf des Films ändert. Bei 'Kroko' war es ja so, dass diese Figur ihren dicken Panzer mal für einen Moment abstreift. Umgekehrt ist die Figur Alex in 'Mondkalb' sehr zurückgenommen, sie will nicht auffallen und nimmt einen Job unter ihrer Qualifikation an. Und da wünscht man sich, dass sie ihre unterdrückte Wut heraus lässt."

... einen emotionalen Ausbruch gibt es, als Alex den Geschäftsführer verdächtigt, er habe ihren Kolleginnen erzählt, dass sie im Gefängnis war ...
"... da hat sie für einen kurzen Augenblick einmal die Kontrolle verloren. Wenn Dinge so lange unterdrückt werden, kommt es zu solchen Ausbrüchen. Die Frage, warum sie nicht aus ihrer Haut kann, wird von mir im Film nicht beantwortet, obwohl ich weiß, welche Haltung ich dazu habe."

Und welche ist das?
"Wir werden von uns in bestimmten Situationen immer behaupten, dass wir es nicht können, aber es kommt auf die kleinen Schritte an. Natürlich kann man über die Hauptfigur rätseln, aber ihr wurde eben der Weg nicht geebnet, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln."

Die Hauptfigur Alex kommt vom Westen in den Osten, um dort ein neues Leben zu beginnen. Wie wichtig ist dieser Wechsel vom Westen in den Osten? Würde die Geschichte auch entgegengesetzt funktionieren oder wäre es da etwas anderes?
"Das ist heute immer so eine aktuelle Diskussion, ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich sehe da Unterschiede in den Persönlichkeiten, wie oft lassen wir uns von jemandem überraschen, den wir total für einen Ossi gehalten haben und dann ist es doch ein Wessi. Insofern würde es wohl auch entgegengesetzt funktionieren."

Aber Sie haben doch den Osten bewusst gewählt ...
"... ja, weil ich solche Leute kenne und auch die Landschaft halte ich nicht für trist, denn das ist meine Heimat, über die wir hier reden. Zu meiner Heimat habe ich sehr warme Gefühle und auf dem Acker bin ich selber als Kleinkind Schlitten gefahren."

Es gibt immer Rollenklischees, die man mit bestimmten Schauspielerinnen und Schauspielern verbindet. In Ihrem Film ist Juliane Köhler nicht nur äußerlich das ganze Gegenteil von den meisten Figuren, die sie bisher in Filmen verkörpert hat. Wie war die Zusammenarbeit mit Juliane Köhler?
"Das war gar nicht so genau überlegt, es gab plötzlich die Idee, Juliane Köhler diese Rolle anzubieten. Vom Produzenten wurde sie mit Begeisterung aufgenommen und die Caster meldeten sich sofort bei ihr. Dabei wollte ich sie erst einmal kennen lernen, doch da bekam ich einen Anruf von ihr: 'Ich habe das Buch gelesen und ich mache es.' Und ohne sie wirklich zu kennen, war meine erste Frage, wie es mit dem Mut zur Hässlichkeit aussieht, um den Niedergang einer Figur ohne Eitelkeiten zu zeigen. Sie war sofort dazu bereit, obwohl es ein Risiko war, denn es gab vor dem ersten Drehtag keine Proben. Juliane hat sich sofort ihre Haare abschneiden lassen, dabei hatte ich mich gar nicht recht getraut zu fragen."

Neben den Schauspielern behauptet sich Leonard Carow, der die Rolle des zwölfjährigen Tom spielt. Wie haben Sie ihn entdeckt?
"Er hat die wunderbare Gabe zuzuhören und versucht zu verstehen, was von ihm erwartet wird. Er ist auch im wirklichen Leben so minimalistisch in seinem Ausdruck und er hat überhaupt keine Aggressionen, aber wir haben alles im Vorfeld besprochen und er wusste genau, was zu tun war. Es war auch zwischen uns nicht das Verhältnis, hier ist die Regisseurin und dort ist das Kind als Erfüllungsgehilfe, sondern wir begegneten uns auf Augenhöhe, wie ich es mit den geistig Behinderten in 'Kroko' getan habe und wie ich es mit jedem tue. Dass ich die Chefin bin, weiß sowieso jeder."

Sie haben einmal gesagt, dass es Ihnen um Authentizität geht und die Filme eine Stimmung erzeugen sollen. Um welche Stimmung geht es Ihnen bei "Mondkalb"?
"Sie verlangen da etwas von mir, was ich Ihnen nicht sagen kann. Ich habe nämlich da meine Zweifel, ob ich das genau bestimmen kann. Auf jeden Fall hat es mit Intensität zu tun, eine intensive Stimmung, die mich mitnimmt und wahrhaftig ist. Auch wenn es Figuren sind, die einen nicht auf den ersten Blick verführen, schaffen sie es später dann doch. Eine Stimmung ist auch ein Moment des Magischen und man weiß nicht immer genau, was einen angetrieben hat. Ich kann mir vieles vornehmen, aber ob es auch angenommen wird, ist die Frage. Wir machen auch Testvorführungen ..."

Haben Sie danach noch viel verändert?
"Ja, vor allem habe ich gekürzt, der Film war mal vierzig Minuten länger. Dinge wurden wiederholt erzählt und da haben uns viele geholfen, dies herauszunehmen, weil man auch betriebsblind wird."

Fallen Ihnen solche radikalen Kürzungen leicht?
"Ich kann da schon dreißig Minuten herauskloppen, denn es geht nicht darum, dass ich bestimmte Dinge liebe, sondern die Zuschauer sollen sich in den Film verlieben."

Interview: Manfred Hobsch

 

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