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Ausgabe 116-4/2008

"Zur Hölle mit Osama!"

Gespräch mit Benjamin Gilmour, Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann der australisch-pakistanischen Produktion "Son of a Lion"

(Interview zum Film SON OF A LION)

KJK: Ihr Film zeigt Kinder, die schon im Grundschul-Alter mit Waffen hantieren. Wie sind Sie selbst aufgewachsen?
Benjamin Gilmour: "Ohne jede Gefahr, ich hatte eine wunderbare Kindheit. Geboren wurde ich als Sohn einer deutschen Mutter und eines australischen Lehrers in Mönchengladbach, kam aber mit drei Jahren nach Australien. Ich bin zweisprachig aufgewachsen, denn meine Mutter hat mit mir Deutsch gesprochen. Bei uns gab es kein Fernsehen, ich war viel am Strand und musste mir meine Abenteuer selbst erfinden. In Sydney ging ich auf eine sehr angesehene Schule, wo besonders der Sport gepflegt wurde. Ich war auch sportlich, aber ich habe mich trotzdem immer als Außenseiter gefühlt und stets einen großen Widerwillen gegen diese ewige Kontrolle durch die Schule und andere Institutionen gespürt. Ich war ein bisschen verträumt, wollte meine eigenen Sachen machen, meine Freiheit haben – so ein bisschen wie Niaz."

Das ist die elfjährige Hauptperson Ihres ersten Films. Wie kam es dazu?
"Das ist eine lange Geschichte. Meine ersten Filme habe ich erst mit 15, 16 Jahren gesehen und nie gedacht, dass ich jemals in dieser Welt landen würde. Nach der Schule war ich zunächst Rettungssanitäter in Sydney. Aber nach sieben Jahren fühlte ich mich so ausgebrannt, dass ich eine Pause brauchte, und mit meiner Freundin eine Motorrad-Reise nach Indien gemacht habe. Dort sind wir auch durch Rajasthan gefahren, kamen schließlich an die Grenze zu Pakistan und beschlossen, uns da drüben auch umzusehen. Wir landeten in einer faszinierenden Welt, in der sich seit mehr als 1000 Jahren nichts verändert zu haben schien. Wir fuhren erst nach Peschawar und lasen dort von Darra Adam Khel, einem Dorf im Stammesgebiet der Paschtunen, wo seit langem Waffen produziert, repariert und kopiert werden. Es liegt am Tor zum Khyber-Pass in einer wunderschönen Berg-Landschaft an der nordwestlichen Grenze zu Afghanistan und wird vom Paschtunen-Clan der Afridi beherrscht. Man hat uns dort ungeheuer gastfreundlich aufgenommen und wir konnten uns nicht genug wundern über den Widerspruch zwischen dem martialischen Eindruck der Turban- und Waffen-tragenden Männer und ihrer kultivierten, großherzigen, liebenswert-freundlichen Art, ihrem großen Interesse an Musik und Poesie, ihrem herrlichen Witz. Das meist gebrauchte Wort in ihrer Sprache, dem Paschtu, ist Blume und ich glaube, sie kennen nicht weniger als 64 verschiedene Blumenarten.
Natürlich hatten wir erst auch ein bisschen Angst, denn wenn man durch Darra Adam Khel geht, glaubt man, sich im Krieg zu befinden. In den Läden sieht man fast ausschließlich Gewehre, Maschinenpistolen, Panzerfäuste und Handgranaten, auch Kinder im Alter von sechs, sieben Jahren feilen daran herum, und dauernd kommen Leute heraus, die diese Waffen testen, indem sie einfach damit in die Luft ballern. Ich bin gewiss kein Waffen-Narr, aber am Ende habe ich dann auch mit einer AK-47, einer russischen Kalaschnikow, in die Luft geschossen – schon eine sehr beängstigende Erfahrung. Und das Ganze fand statt im August 2001, einen Monat vor dem Flugzeug-Attentat auf das World Trade Center in New York!
Nach unserer Rückkehr konnte ich zunächst keine Arbeit finden und bin nach London gegangen, wo ich einen Job als Rettungssanitäter bei Film-Sets bekam und zum Beispiel auch zuständig war für das gesundheitliche Wohlergehen von Sharon Stone. Aber weil es mich so bekümmert hat, dass die Bewohner der Stammesregion nach dem 11. September derart in Misskredit kamen und nun eine regelrechte Islam-Phobie ausbrach, beschloss ich, noch einmal dorthin zurückzukehren und ihr Leben zu filmen. Ich wollte der westlichen Welt zeigen, dass die Paschtunen ganz anders sind als ihr Image, an einen Spiel-Film hab ich dabei nicht gedacht."

Sie hatten ja wohl auch keine entsprechende Ausbildung. Wie ist es dann doch dazu gekommen?
"Bis dahin hatte ich noch nicht mal eine Kamera in der Hand gehabt. Aber ich habe mir auf den Sets so viel wie möglich bei den Dreharbeiten abgeguckt und den Leuten Löcher in den Bauch gefragt. Einen Produzenten gab es für mein Projekt natürlich auch nicht, dazu schien es viel zu gefährlich. Ich bin trotzdem hingefahren und habe im Stammesgebiet erst mal Kontakte geknüpft. Dort hat man mich sehr unterstützt, weil die Paschtunen darunter leiden, dass sie in der ganzen Welt jetzt als Mörder und Terroristen verschrien sind. Aber sie können dem nichts entgegen setzen, weil zu ihrem strengen Ehrenkodex nicht nur die Gastfreundschaft gehört, sondern auch das Asyl-Recht. Das bedeutet, dass sie jedem – und seien es Kriminelle – Asyl gewähren müssen. Und bevor sie einen Gast ausliefern, müssen sie sich selbst opfern. Insofern sehen sie sich im Moment als Gefangene ihrer Kultur, weshalb auch einer der Männer im Film sagt: 'Zur Hölle mit Osama!'
Als ich mit meinem Material nach Australien zurückkehrte, konnte ich die Produzentin Carolyn Johnson für das Projekt gewinnen – und wir versuchten gemeinsam, daraus ein Feature zu machen. Beim Rohschnitt aber stellte sich heraus, dass das Material dafür nicht ausreichte, und wir kamen überein, das Ganze zu einem Spielfilm auszuweiten. Also habe ich ein Drehbuch geschrieben, wobei mir als Anfang jene Szene diente, die ich bei meinem ersten Besuch beobachtet und nicht vergessen hatte. Damals hatte ich unter den afghanischen Flüchtlings-Jungen, die für wenig Geld eifrig versuchten, die abgeschossenen Kugeln aufzufangen, einen beobachtet, der ein wenig abseits stand und sich für alles andere, nur nicht für den Job zu interessieren schien. Ihn habe ich zum Ausgangspunkt meiner Vater und Sohn-Geschichte gemacht und dann bin ich mit meinem Drehbuch nach Pakistan zurückgekehrt – ohne jedes Equipment und nur mit einer kleinen Video-Kamera im Gepäck.
Von meinem 120 Seiten langen Manuskript ist aber nur die Eingangsszene übrig geblieben, denn die Leute dort haben beim Lesen nur in einer Tour gelacht. In den Gesprächen wurde mir dann klar, dass ich von ihrer Kultur wirklich keine Ahnung hatte, aber sie versprachen mir zu helfen. Für mich sind sie immer noch die großartigsten, gastfreundlichsten und friedfertigsten Leute, denen ich auf meinen zahlreichen Reisen je begegnet bin. Und obwohl diese Region nicht zu kontrollieren ist, obwohl die Taliban und Mitglieder von Al Qaida jederzeit auftauchen können, obwohl der Waffenhandel dort blüht und der Drogenschmuggel, habe ich in ihrer Obhut nie Angst verspürt. Das neue Drehbuch entstand nun vor Ort in enger Zusammenarbeit mit den Einheimischen und die Dialoge wurden sämtlich improvisiert, es gab nur ein paar Schlüsselworte. Wenn sich die Männer zum Beispiel in der Teestube oder beim Barbier über Osama Bin Laden und die jeweils aktuelle politische Lage unterhalten, äußern sie ihre eigenen Gedanken in ihren eigenen Worten."

Wie haben Sie denn Ihre Besetzung gefunden?
"Darauf hatte ich eigentlich keinen Einfluss. Die 'Schauspieler' hat mein ausführender Produzent und Produktions-Assistent Hayat Khan Shinwari ausgewählt. Die Hauptrolle hat er gleich mit seinem Sohn Niaz besetzt, die Großmutter mit seiner Mutter, den Onkel mit seinem Geschäftspartner – er selbst spielt den Vater von Pite, das ist der Junge, der Niaz so schikaniert. Haya Khan hat mich außerdem beherbergt, für mich übersetzt und mit am Drehbuch geschrieben. Er ist ein Großgrundbesitzer, der bei den nächsten Wahlen für die Paschtunen in der Grenzregion antritt, und nebenbei auch ein großer Fan von Italo-Western. Ihm ist es zu verdanken, dass das ganze Projekt überhaupt möglich wurde. Aber ein Casting hat da nicht stattgefunden, es sind ja auch alles Laien. Nur Sher Alam Afridi, der den Vater von Niaz spielt und mit dem ich mich wortlos verstanden habe, hat in den frühen 70er-Jahren mal bei einem Laien-Theater in Kabul gespielt. Er war übrigens ein großer Krieger, hat erst in der Garde von Präsident Daoud Khan gedient, spielte nach dessen Ermordung eine führende Rolle bei den Mudschaheddin, kämpfte gegen die Russen, und als die Amerikaner 2001 in Afghanistan einmarschierten, forderten ihn die Taliban auf, an ihrer Seite mitzukämpfen. Aber Sher Alam hatte vom Morden die Nase voll. Die schrecklichen Narben, die er Niaz im Film zeigt, sind echt und, was er über die Kämpfe gegen die Russen erzählt, seine eigenen Erfahrungen."

Wie konnten Sie in dieser Region überhaupt arbeiten?
"Undercover, mit einer in der Kleidung versteckten Sony PD 150. Ich war immer als Paschtune verkleidet, habe sie in Gang und Haltung kopiert, hatte nie Papiere bei mir und ewig Angst, von der pakistanischen Armee, der Polizei des Stammesgebietes, des Geheimdienstes, den pakistanischen Taliban oder den Leuten von Al-Qaida entdeckt zu werden. Denn Darra Adam Khel war inzwischen nicht nur für Ausländer, sondern z. B. auch für pakistanische Journalisten ein verbotener Ort. Viele Szenen mussten wir daher in sichere Räume oder einsame Täler verlegen. Trotzdem gab es Situationen, da stockte einem der Atem. Als wir zum Beispiel auf dem Markt in Darra gedreht haben, hatte ich anstelle einer Brille Kontaktlinsen eingesetzt, ich sah aus, als hätte ich mich eine Woche lang nicht gewaschen, und natürlich gingen Sher Alam und ich nicht gemeinsam zum Bus, saßen auch nicht zusammen. Die Kamera hatte er vorsorglich an sich genommen. Plötzlich kontrollierten zwei Polizisten den Bus und entdeckten sie. Ich dachte: So, das war’s also, aber Sher Alam blieb ganz cool. Er ist wirklich der geborene Schauspieler und erklärte den Polizisten, dass er zur Hochzeit seiner Cousine führe. Postwendend bekam er die Kamera zurück, denn eine Hochzeit ist dort die einzige Gelegenheit, wo man filmt."

Ihr beeindruckender Film wird jetzt um die Welt gehen – ist da das Risiko für Ihre Mitwirkenden nicht sehr groß?
"Auf jeden Fall. Aber sie stehen hinter dem Film und haben nach einer privaten Vorführung gesagt, dass nichts an der Darstellung des Islam, Pakistans oder der Paschtunen darin falsch sei. Sie sind das Risiko wirklich ganz bewusst eingegangen, weil sie der Welt sagen wollten, dass zwar die Mehrheit der Taliban-Krieger Paschtunen sind, aber nicht die Mehrheit der Paschtunen Taliban."

Und Sie? Können Sie noch in dieses faszinierende Land zurückkehren?
"Nein. Seit die Taliban die Kontrolle in Darra Adam Khel übernommen haben, ist es für mich unmöglich, dahin zu fahren. Leider."

Mit Benjamin Gilmour sprach Uta Beth

 

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