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Ausgabe 118-2/2009

"Man konnte uns töten, uns aus unserem Leben werfen, aber nicht unseren Geist, unsere Kraft, unsere Würde nehmen."

Gespräch mit Aida Begic, Regisseurin und Autorin des Films "Snow – Snijeg"

(Interview zum Film SNOW)

Aida Begic (Jg. 1976) absolvierte in Sarajevo die Hochschule für darstellende Kunst, ist als Werbefilmerin tätig und unterrichtet Regie an der Kunsthochschule in Sarajevo. "Snijeg" ist ihr Spielfilmdebüt.

KJK: 2006 ging der Goldene Bär an den bosnischen Film "Esmas Geheimnis – Grbavica", Ihr Film "Snow – Snijeg" erhielt 2008 den Grand Prix Semaine de la Critique in Cannes. Beide Filme spielen im Bosnien der Nachkriegszeit und haben etliche Koproduzenten gefunden. Worauf führen Sie das internationale Interesse an Ihren Arbeiten zurück?
Aida Begic: "Einmal haben wir etwas zu erzählen, zum anderen sind wir auf die Unterstützung anderer Länder angewiesen. Bosnien ist ja sehr klein und hat eigentlich keine Basis für eine Film-Produktion. Wir haben keine Kameras, keine Kopierwerke, viele Profis sind fortgegangen – also müssen wir uns sehr anstrengen und meistens scheint es geradezu absurd, in Bosnien einen Film drehen zu wollen. Insofern ist es eine große Sache, wenn wir Profis und vor allem dem Publikum in aller Welt einen Film von uns zeigen können, der bemerkt wird. Deshalb war der Preis in Berlin für die Regisseurin Jasmila Zbanic, die ich sehr gut kenne, weil wir zusammen an der Akademie in Sarajevo studiert haben, nicht nur wichtig für sie, sondern für uns alle. Die Auszeichnung in Cannes natürlich auch. Schon, dass wir mit 'Snijeg' in einem frühen Stadium zum Atelier-Festival von Cannes eingeladen wurden und 2003 den Preis für Projektentwicklung erhielten, war unglaublich hilfreich. Denn dort haben wir unsere deutschen, französischen und iranischen Koproduzenten getroffen."

Wie lange haben Sie an diesem Film gearbeitet?
"Fast sechs Jahre. Zunächst habe ich die Idee zusammen mit Faruk Sabanovic entwickelt; er ist Autor, macht aber auch Animationsfilme. Das Drehbuch erarbeitete ich dann gemeinsam mit Elma Tataragic, der bosnischen Produzentin, und Noemi de Lapparent aus Frankreich. Am Anfang stand die Frage, was hält uns in Bosnien, warum bleiben wir in einem Land, das nach dem Krieg so unendlich viele Probleme hat? So kamen wir auf die Geschichte mit den Frauen in Slavno, die alle jemanden im Krieg verloren haben, Kinder, Ehemänner, Väter, Großväter und Brüder. Dennoch fühlen sie keinen Hass. Für mich offenbart das eine große Kraft und ich weiß gar nicht, woher sie die nehmen. Es ist ein Beweis großer Menschlichkeit. Keine der vielen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, dachte an Rache und Selbstjustiz, obwohl sie sehr enttäuscht sind von der kapitalistischen, materialistischen Welt und ihren Glauben an eine globale europäische Gerechtigkeit längst verloren haben. Sie alle sind mehr oder weniger enttäuscht vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, denn noch immer sehen sie viele Kriegsverbrecher in Freiheit und niemand nimmt sie in Haft und bestraft sie."

Das ist Thema des Films "Sturm" von Hans Christian Schmid, der im Wettbewerb der Berlinale lief. Schmid erzählte auf der Pressekonferenz von der großen Hilfe, die ihm für seinen Film in Bosnien zuteil wurde.
"Ja, er hat im letzten Sommer bei uns gedreht und viele Bosnier haben da mitgewirkt. Mir hat sein Film sehr gut gefallen – und auch, dass so viele junge Leute da mitgemacht haben. Ich arbeite auch gerne mit Leuten im meinem Alter – ich werde 33 Jahre alt – und habe schon für meinen Diplom-Film, den Kurzfilm 'First Death Experience', nur Leute meiner Generation um ihre Mitwirkung gebeten, allesamt Film-Enthusiasten. 'Snijeg' habe ich dann mehr oder weniger mit der gleichen Crew gedreht. Sich gemeinsam zu entwickeln und Fortschritte zu erzielen, ist meiner Überzeugung nach der einzige Weg für uns Filmemacher in Bosnien. Auch ist es sehr viel angenehmer, mit einer kleinen vertrauten Crew zu arbeiten, weil man nicht so unter Stress und dem enormen Druck steht, der dadurch entsteht, dass ein Film ja eine sehr teure Angelegenheit ist."

Wo haben Sie gedreht?
"In einem kleinen, von der Welt abgeschnittenen Gebirgsdorf im Osten von Bosnien. Dort haben die Frauen nahezu die gleiche Geschichte erlebt wie im Dorf Slavno in unserem Film: die Ermordung ihrer männlichen Verwandten durch die Massaker der serbischen Tschetniks. Die Arbeit in dieser bedrückenden Atmosphäre bedeutete ein großes Risiko; die Crew war weitgehend isoliert, was natürlich auch zu Spannungen zwischen den Frauen auf dem Set führte, die fünf Wochen lang weit von zu Hause leben mussten. Ja, es waren schon ganz besondere Dreharbeiten, aber ich bin eben der Meinung, dass Filmemachen in der Realität wurzeln muss. Wenn Leben und Kunst zusammen kommen, ist das wirklich phantastisch, weil es hilft, die Wahrheit zu transportieren, deine Vision zu unterstützen und sie zu realisieren."

Wo haben Sie die phantastischen Schauspielerinnen gefunden?
"Die meisten von ihnen sind anerkannte Theater-Schauspielerinnen aus Sarajevo – auch Zana Marjanovic, die Darstellerin von Alma. Sie hat die Hochschule für Kunst und Darstellende Kunst in New York absolviert und dann ihren Abschluss an der Kunsthochschule in Sarajevo gemacht, wo ich eine Dozentur habe. Zana hat bereits einmal in einem Film mitgewirkt, alle anderen Schauspieler noch nie. Insofern war es nicht nur mein Debütfilm, sondern auch der für die anderen Schauspielerinnen, den Kameramann, die Cutterin, die Produzentin und natürlich die Kinder. Das war wirklich eine Herausforderung für uns alle."

Mitte der 90er-Jahre gastierte in Berlin eine Theatergruppe aus Sarajevo, die von ihren Bühnenauftritten während des Krieges erzählt hat. Ich habe ihren Mut damals sehr bewundert.
"Diese Theatergruppen inspirierten mich, Regisseurin zu werden. Ich habe diese harte Zeit miterlebt beim Theater in Sarajevo, meiner Geburtsstadt. Während der Belagerung im Krieg hatten wir nichts zu essen, nichts zu trinken, keinen Strom, aber trotz aller Entbehrungen wollten wir unbedingt Theater spielen, Konzerte geben und Filme realisieren. Damals habe ich die Überzeugung gewonnen, dass die geistige Nahrung mindestens genauso wichtig ist wie die körperliche, vielleicht noch wichtiger, weil wir uns dadurch vom Tier unterscheiden. Die Kunst ließ uns unsere menschliche Würde fühlen und bedeutete zugleich Widerstand – man konnte uns töten, uns aus unserem Leben werfen, aber nicht unseren Geist, unsere Kraft, unsere Würde nehmen."

Ich mag die genaue und wortlose Darstellung der Beziehung zwischen Alma und ihrer Schwiegermutter Safija. Zu Anfang ist die Luft zwischen ihnen zum Schneiden, am Ende rücken sie zusammen.
"Es ist eine sehr komplexe Beziehung, die nur darin besteht, dass der so sehr Vermisste Almas Mann und Safijas Sohn ist. Aber trotzdem bleiben sie irgendwie miteinander verbunden. Schon unter normalen Umständen ist die Beziehung von Schwiegertochter und Schwiegermutter nicht immer einfach, wenn aber das Objekt ihrer Liebe nicht mehr da ist, wird das noch schwerer. Ich habe viele Frauen getroffen, die noch sehr jung waren, als sie ihren Mann während des Krieges verloren. Sie lebten zusammen mit der Familie des Mannes, um ihre Liebe und den Respekt gegenüber seiner Familie zu erweisen. Aber mir scheint das ein bisschen zu radikal, weil sie auf diese Weise auf ihr eigenes Leben verzichtet haben. Sie waren vielleicht 20, 22 Jahre alt, als sie Witwe wurden, und die bosnische Kultur, dieses dörfliche Umfeld und seine Tradition sind nicht gerade dazu angetan, den Frauen eine zweite Chance zu geben. Das ist nicht in der Religion begründet, sondern einzig in der Tradition, die nicht mehr zeitgemäß ist. Okay, in Westeuropa ändert sich das, aber auch nur in den großen Städten, weil sich dort die Leute nicht kennen und man eine gewisse Freiheit genießt. Aber in den kleineren Gemeinden findet man überall die gleiche Situation – von Japan bis in die USA."

Was ist eigentlich mit den Leuten, die ihre Häuser verkauft haben? Wieso sind sie noch in dem Dorf?
"Ach, ich verstehe – bei uns ist das mit Verträgen anders als in Deutschland. Selbst wenn man einen Vertrag unterschrieben hat, heißt das noch gar nichts. Wenn irgendjemand dagegen Einwände erhebt, gilt er halt nicht. Bei uns ist das Rechtssystem wesentlich anarchistischer – in diesem Fall ist das gut, aber wenn dir Geld zugesprochen und das nicht bezahlt wird, ist das schon schlechter. Deshalb sind die Frauen in dem Film am Ende frei, selbst zu entscheiden, ob sie weggehen wollen oder nicht. Sie stehen nicht unter dem Druck, ein zweites Mal aus ihrem Dorf verjagt zu werden."

Ihr Film endet hoffnungsvoll. Wie sehen Sie selbst die Zukunft in Ihrem Land?
"Heutzutage ist es in Bosnien sehr schwer und zwar wesentlich schlechter als vor etwa zehn Jahren. Ich meine, jeder hat nach diesem schrecklichen Krieg gedacht, dass es endlich besser würde, der Fortschritt einzöge, aber das Gegenteil scheint der Fall. Wir haben nicht viel erreicht in Bezug auf unser gemeinsames Zusammenleben und unglücklicherweise glauben die Leute auch nicht recht an die neue Republik Bosnien-Herzegowina, weil die Leute an den Grenzen weder leben, weggehen oder zurückkommen können, weil es immer noch viele Konflikte zwischen den verschiedenen Volks- und Religions-Gruppen gibt, die sich gegenseitig versuchen zu töten, weil auch weiterhin Bomben auf Unschuldige abgefeuert werden.
Es ist alles andere als angenehm in unserem Land und die Politiker tun nicht eben viel, Leute zu ermutigen, wieder nach Hause zu kommen. Es gibt viel Hass untereinander und viele, die anerkannte Kriegsverbrecher unterstützen. Und es gibt so viel Korruption bei den Politikern. Wir hatten und haben wirklich eine sehr schlechte Regierung, die sich aus rund 100 Ministern zusammensetzt. Und dafür, dass sie ihre Arbeit nicht machen, müssen wir so viel Geld aufbringen. Ich kenne keinen Regierungsapparat, der so aufgebläht und ineffizient ist, der so viele Entscheidungsebenen hat. Daher kann ich kein sehr optimistisches Bild entwerfen, aber ich denke doch, dass es richtig ist, weiterzukämpfen. Auch, wenn wir selbst keinerlei Fortschritt erkennen können, hoffe ich doch, dass unsere Kinder davon profitieren werden. Ja, das ist meine Hoffnung."

Mit Aida Begic sprach Uta Beth

 

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