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Ausgabe 62-2/1995

"Mich interessieren die Nuancen, die Schattierungen in den Beziehungen der Menschen"

Gespräch mit Satybaldy Narymbetov, Regisseur des Films "Közimnin Karasy"

(Interview zum Film DIE KINDHEIT DES AKKORDEONSPIELERS)

Der Film lief – mit dem dt. Titel "Die Kindheit des Akkordeonspielers" – als Wettbewerbsbeitrag beim Kinderfilmfest der Berlinale 1995

KJK: In der multikulturellen Dorfgemeinschaft, die Sie in Ihrem – autobiografischen – Film zeigen, kommt es zu einer Reihe von Konflikten unter den Einwohnern. Was war Ihnen wichtig zu vermitteln über das Umfeld Ihrer Kindheit?
Satybaldy Narymbetov: "Wie man weiß, haben die Menschen in Babylon diesen hohen Turm gebaut, weil sie zu Gott in den Himmel wollten. Die Menschen hatten Streit und Probleme mit ihrer Unterschiedlichkeit und ihren verschiedenen Sprachen. Darüber empörte sich Gott und er hat sie auseinander gejagt. Mit jeder Katastrophe, die auf der Erde geschieht, erinnert Gott uns an die Geschichte von Babylon. Der eine Gott erinnert die Menschen daran, dass es keine Nationalitäten gibt. Er versucht, die Völker dazu zu bewegen, dass sie sich zu Gott wenden. In meiner Vorstellung ist 'Gott' mein Gewissen."

Wie kamen Sie zu dem Filmtitel "Augenstern"? (So heißt der Originaltitel "Közimnin Karasy" in wörtlicher Übersetzung)
"Ich wende mich an die Menschen durch die Augen, durch den Blick eines Jungen. Und wenn sich so ein Junge mit großen traurigen Augen an die Zuschauer wendet, dann ist ihm etwas zugestoßen, etwas passiert. Ich wollte mit meinem Film keine Feststellung treffen, sondern den Menschen eine wichtige Frage stellen: 'Was geschieht mit euch, Leute? Was tut ihr?' Das ist, kurz gesagt, das Thema meines Films."

In einer Traumszene Ihres Films geht Esken, der junge Held des Films, aus dem Dunkel heraus auf eine helle Straße, die am Horizont verschwindet. Ist das der Weg in die Zukunft?
"Ja, das ist der Ausgang zum Licht. Ich habe versucht, ohne zwanghaft zu werden, biblische Motive in den Film zu integrieren, so z. B. die Bewegung aus dem Dunkel ins Licht, denn wir kommen alle aus der Erde und gehen wieder in die Erde, oder nehmen Sie den Vorgang bei der Geburt, wenn wir aus der Mutter ins Licht geboren werden."

Würden Sie Ihren Film als 'Kinderfilm' bezeichnen?
"Ich habe hier schon oft gesagt: 'Mein Film ist kein Kinderfilm.' Der Film ist für ein Erwachsenenpublikum gemacht, und er sollte auch entsprechend im Festivalprogramm platziert sein. Ich hatte gehofft, mein Film würde hier von einer Jury aus Fachleuten beurteilt."

Hatten Sie wirklich keine Ahnung, dass Ihr Film im Rahmen des Kinderfilmwettbewerbs präsentiert wird?
"Ich sage Ihnen, zu einem Kinderfilmfestival wäre ich mit diesem Film ganz sicher nicht gefahren. Ich ging davon aus, dass es nur ein Programm gibt, und zwar für Erwachsene. Ich meine, kein Vater gibt sein Kind gerne in fremde Hände, und ich habe seit fünf Tagen die Angst, dass das Schicksal meines Filmes von der Entscheidung einer Kinderjury abhängt. Stellen Sie sich vor, Fellini hätte 'Armacord' hier beim Kinderfilmfest präsentiert. Er wäre entweder verrückt geworden oder sofort nach Rom zurückgeflogen."

Glauben Sie wirklich, dass die Entscheidung dieser Kinderjury so großen Einfluss auf das weitere Schicksal des Filmes haben wird?
"Zu einem großen Festival wie Berlin zu fahren und ohne Preis zurückzukommen, ist vernichtend. Aus Tokio und Frankreich habe ich für diesen Film große Preise mitgebracht und jetzt fürchte ich, dass der Film hier leer ausgeht."

Welche Autoren und Regisseure haben Einfluss auf Ihre Arbeit?
"Wichtig war für mich Jean Vigo, der, noch nicht vierzigjährig, starb und nur zweieinhalb Filme realisiert hat. Er starb vor dem Krieg und hatte großen Einfluss auf Fellini, Truffaut und Godard. Truffaut's Film 'Sie küssten und sie schlugen ihn' basiert auf Vigo's Film 'Betragen ungenügend'. Jean Vigo ist ein Lehrer für mich gewesen."

Sehen Sie sich selbst in erster Linie als Autor oder als Regisseur?
"Das ist so: Die Filme sind meine rechte Hand, die Bücher meine linke. Wie kann ein Mensch mit nur einer Hand leben? Deshalb schreibe ich zuerst die Erzählung und dann verfilme ich sie. Nach fremden Drehbüchern kann ich nicht arbeiten. Ich habe es einmal versucht und dabei den Stoff zerstört. Ich hatte einen Streit mit dem Autor und jetzt reden wir nicht mehr miteinander. Da habe ich beschlossen, nur noch mit mir selbst zu streiten, mit mir selbst zu schweigen, und manchmal macht mich diese Einsamkeit fast wahnsinnig. Aber ich sage mir: Lieber selbst verrückt werden, als andere verrückt zu machen."

Die Arbeit mit den Darstellern bei der Verfilmung Ihrer Geschichte muss für Sie eine große Befriedigung gewesen sein, oder?
"Es ist wunderbar, wenn die Figuren des Buches sich in lebendige Menschen verwandeln, wenn du die Erfindungen des Drehbuchs in der Realität umzusetzen versucht. Dabei interessieren mich besonders die Nuancen, die Schattierungen in den Beziehungen der Menschen. Ich probiere solange mit den Schauspielern, bis sie ihre Figuren anfangen zu 'leben' anstatt zu 'spielen'. Diese Art zu probieren ist geprägt von der Schauspielkunst Michael Tschechows."

Haben Sie mit einem gemischten Ensemble aus Profis und Laien gearbeitet?
"Es gab vier professionelle Theaterschauspieler, die anderen Darsteller waren alle Einwohner des Dorfes. Die vier Schauspieler haben eine Zeit lang in dem Dorf gelebt. Sie haben die Kleidung der Dorfbewohner getragen und die Einheimischen jeden Tag besucht. Ich habe die Schauspieler gebeten, ihren Beruf zu vergessen, denn sie sollten mit den übrigen Dorfbewohnern verschmelzen. Als sich dieser Prozess eine Zeit lang entwickelt hatte, haben wir mit den Dreharbeiten begonnen."

Wie haben Sie den Darsteller des Esken, des Helden der Geschichte, gefunden?
"Da mir diese Besetzung sehr wichtig war, bin ich mit meinem Assistenten und der Kamera einen Monat in Schulen und überall unterwegs gewesen. Drei Tage vor Drehbeginn hatten wir immer noch niemand gefunden. Wir waren verzweifelt, denn der Film war eine staatliche Auftragsarbeit und alles wurde streng kontrolliert. Die Erwachsenen-Rollen hatte ich schon besetzt und am letzten Tag vor Drehbeginn hatten wir endlich einen Jungen, der aber nicht meinen Vorstellungen von der Figur entsprach. Nach Feierabend saßen der Kameramann und ich zusammen auf dem Gelände des Filmstudios und überlegten, ob dieser Junge die ganze Last der Rolle würde tragen können. Da bemerkte ich plötzlich in einer Garage in einiger Entfernung ein Mädchen und einen Jungen. Wir beobachteten die beiden eine Weile und stellten fest, dass sie sich sehr ähnlich sahen. Ich rief die beiden und wir sahen, dass es tatsächlich Zwillinge waren. Mein Assistent erzählte, dass sich die beiden schon seit zwei Tagen auf dem Gelände herumtrieben, aber ich hatte sie nicht bemerkt. Ich fragte den Jungen, der sehr klein von Wuchs war, was sie hier wollten und er sah mich frech an und sagte: 'Natürlich in Ihrem Film mitspielen!' Ich dachte mir allerlei aus, um den Jungen einzuschüchtern, aber er meinte, er hätte keine Angst und außerdem praktiziere er Karate. Wir machten einige Probeaufnahmen mit ihm und ich wollte immer weiter machen, um die Belastbarkeit des Jungen zu prüfen, aber mein Kameramann nahm mich beiseite und sagte: 'Warum quälst du den Jungen? Er ist doch der Held deines Films!' So haben wir ihn gefunden."

Welche Pläne haben Sie für die nahe Zukunft?
"Ich habe vier fertige Drehbücher in der Schublade. Die Franzosen interessieren sich für ein Skript, das ich jetzt gerade umschreibe und im Mai einer französischen Kommission vorlegen werde. Wenn es ihnen gefällt, bekomme ich für dieses Projekt viel Geld. Es wird eine Co-Produktion."

Werden Sie wieder Regie führen?
"Ja. Ich kann meine Geschichten einfach niemand anders anvertrauen."

Das Gespräch mit Satybaldy Narymbetov führte Harald Pilar von Pilchau

 

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