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Ausgabe 126-2/2011

LOLLIPOP MONSTER

Produktion: Network Movie, in Koproduktion mit ZDF – Das kleine Fernsehspiel; Deutschland 2011 – Regie: Ziska Riemann – Buch: Ziska Riemann, Luci van Org – Kamera: Hannes Hubach – Schnitt: Dirk Grau – Musik: Ingo Ludwig Frenzel – Songs: Alexander Hacke, The Assassinations, Khan – Darsteller: Jella Haase (Ari), Sarah Horváth (Oona), Nicolette Krebitz (Kristina, Oonas Mutter), Fritz Hammel (Boris, Oonas Vater), Thomas Wodianka (Lukas), Sandra Borgmann (Marie, Aris Mutter), Rainer Sellien (Volker, Aris Vater), Janusz Kocaij (Jonas, Aris Bruder), Koffi Kôkô (Baron) u. a. – Länge: 96 Min. – Farbe – FSK ab 16 – Altersempfehlung: ab 16 J.

Der Debütfilm der 38-jährigen Heilpraktikerin, Musikerin, Comiczeichnerin, Verfasserin von Kurzgeschichten, Drehbuchautorin und Regisseurin Ziska Riemann ist schrill, bunt, provokativ und geht dabei tief unter die Haut. Es ist ein Coming-of-Age-Drama zweier sehr unterschiedlicher Mädchen – der immer in Schwarz gekleideten, dunkelhaarigen Oona und der 15-jährigen Ari, die mit ihren blonden Zöpfen und den quietsch-bunten Klamotten aussieht wie ein Ding zwischen Lolita und Rotkäppchen.

Ari und Oona träumen vom Ausbruch in die Freiheit. "Wir fühlen alles, uns machst du nichts vor, wir sind Trieb, Lust und Instinkt", singt Baron, der Sänger ihrer Lieblingsband "Tier", und genau das wünschen sich die beiden Mädchen von ihrem Leben: Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und das Zulassen tiefer Gefühle. Sie wollen weg von ihrem engen Zuhause, weg von den Eltern, die nur mit sich beschäftigt sind und alle Probleme unter den Teppich kehren. So ist Ari nicht nur kunterbunt angezogen, sondern auch in der elterlichen Wohnung ist alles kunterbunt und niedlich eingerichtet. Mutter Marie, eine Stoffpuppen-Designerin, will nicht bemerken, dass ihre Kinder groß geworden sind, und säuselt nach wie vor beim Essen: "Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb!" Aris älterer Bruder Jonas reagiert auf das Klammern seiner Mutter mit den verschiedensten Psychosen und Panikattacken, Ari selbst frisst den Frust in sich hinein und holt sich die fehlende Zuneigung beim Sex mit fremden Männern. Oona wiederum, bei der zu Hause alles dunkel und düster wirkt, leidet unter den katastrophalen Folgen der zerrütteten Ehe ihrer Eltern. Vor allem aber fühlt sie sich schuldig an dem Selbstmord ihres geliebten Vaters, eines depressiven Künstlers. Ihm hatte sie erzählt, dass die Mutter mit seinem Bruder Lukas fremdgeht. Von ihrer Mutter Kristina ist kein Trost zu erwarten. Im Gegenteil, sie geht in der neuen Beziehung zu Lukas auf, während Oona mit ihrer Trauer allein fertig werden muss. In ihrem Schmerz zieht sie sich zurück, ritzt sich die Arme blutig und bannt wie wild ihre Todes- und Gewaltfantasien mit schwarzer Zeichenkohle aufs Papier.

Als sich Ari und Oona näher kommen, merken sie schnell, wie sehr sie sich trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit brauchen. So lernt Oona von Ari, ihre Wut nach außen zu kehren, und Ari erfährt durch die Freundin Anerkennung und kann allmählich wieder ein Gefühl von Selbstachtung entwickeln. Doch dann beginnt Ari eine Affäre mit Lukas. Oona ist entsetzt, hat doch der verhasste Onkel schon einmal ihr Glück zerstört. Das darf ihr nicht wieder passieren! Sie kämpft um Ari und auch Ari ist bereit, alles zu tun, um die Freundschaft zu retten …

"Lollipop Monster" erlebte seine Premiere bei Perspektive Deutsches Kino der Berlinale 2011 und wurde schon nach der Pressevorführung als der Geheimtipp unter dem Fachpublikum gehandelt. Zu Recht, denn mit ihrem Debüt erzählt Ziska Riemann auf der einen Seite eine psychologisch genau auf den Punkt gebrachte, ernsthafte Coming-of-Age-Geschichte, die aber auf der anderen Seite so überspitzt wird, dass sie etwas Unglaubliches, Surreales erhält. Um diese surreale, unwirkliche Ebene darzustellen, schöpft die Allround-Künstlerin aus dem Vollen und mixt die verschiedensten Erzählmedien, wie sie es nennt: "‘Lollipop Monster‘" hat eine Zeichentrickebene aus expressiven Kohlestrichen, es gibt Musikclips, Tanz, digitale Tricks und Super 8 Sequenzen. In den kontrastierenden Welten der Mädchen treffen Extreme aufeinander: Schwarz/Weiß und bunt, Lust und Schmerz, Ohnmacht und Ausbruch, Enge und Grenzenlosigkeit. Diese Gegensätze ziehen sich durch alle Ebenen und finden sich in Musik, Sounddesign und Lichtstimmungen wieder." Und vor allem auch im Kostüm, wofür die Kostümgestalterin Julia Brandes den FEMINA-Film-Preis erhielt. Im Gegensatz zu diesen bunten, schrillen Bildern verleihen die Schauspieler, die durch die Bank weg toll spielen, allen voran natürlich Jella Haase und Sarah Horváth, ihrer Rolle ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit und damit an Glaubwürdigkeit. Diese Mischung, dieses Hin und Her zwischen einer scheinbaren Normalität und der absoluten Überspitzung machen diesen Film so spannend und bemerkenswert.

Barbara Felsmann

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 127-2/2011 - Interview - "Wir wären ein schönes Duo Infernale gewesen"

 

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Ausgabe 126-2/2011

 

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