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Ausgabe 126-2/2011

TOMBOY

( zum Film NAISSANCE DES PIEUVRES)

Produktion: Hold Up Films & Productions, in Koproduktion mit Arte France Cinéma und Lilies Films; Frankreich 2011 – Regie und Buch: Céline Sciamma – Kamera: Crystel Fournier – Schnitt: Julien Lacheray – Darsteller: Zoé Heran (Laure/Michael), Malonn Lévana (Jeanne), Jeanne Dison (Lisa), Sophie Cattani (Laures Mutter), Mathieu Demy (Laures Vater), Yohan Véro (Vince)  u. a. – Länge: 84 Min. – Farbe – Verleih: Alamode – Altersempfehlung: ab 12 J.

Immer noch wird die Kindheit allzu gerne als eine Zeit der Unschuld betrachtet und von "geeigneten" Kinderfilmen erwarten sich manche Eltern, dass sie diesem Klischee entsprechen. Die junge französische Drehbuchautorin und Filmemacherin Céline Sciamma, die 2007 mit "Wasserlilien" ihr in Cannes viel beachtetes Debüt gab, möchte in ihrem zweiten Spielfilm dagegen zeigen, dass bereits die Kindheit voller widersprechender und äußert starker Emotionen ist. Kinder wirklich ernst zu nehmen bedeutet, solchen Emotionen die gebührende Beachtung zu schenken und sie nicht einfach unter den Tisch fallen zu lassen.

Tomboy, so nennt man Mädchen, die sehr jungenhaft wirken. Die zehnjährige Laure ist unverkennbar ein solches Mädchen. Gerade erst ist sie mit ihren Eltern und der sechsjährigen Schwester Jeanne mitten in den Sommerferien zugezogen. In der Stadtrandsiedlung wird sie von der gleichaltrigen Lisa für einen Jungen gehalten und Laure belässt sie gerne in diesem Glauben. Sie stellt sich den anderen Kindern als Michael vor, spielt mit den Jungen Fußball, ahmt ihre Gesten und Verhaltensweisen nach, etwa indem sie kräftig auf den Boden spuckt, rauft sich mit den anderen und übertrumpft im Wettstreit so manchen "echten" Jungen. Das imponiert Lisa, zumal sich Michael zugleich als sehr sensibel und damit irgendwie doch anders als viele Jungen verhält und beim gemeinsamen Schminken als "Mädchen" ebenfalls gut wirkt. Problematisch wird Laures Spiel mit falschen Identitäten, als die Kinder baden gehen wollen. Aber auch da zeigt sich Laure erfinderisch. Sie kramt in den Spielutensilien der Schwester eine Knetmasse hervor, mit der sich das fehlende Ding in der Badehose sehr gut nachbilden lässt. Während Laure in der Öffentlichkeit als Junge auftritt, ist die Beziehung in der Familie und vor allem die zu ihrer kleinen Schwester Jeanne von großer Zärtlichkeit getragen. Die Geschwister verstehen sich prächtig, intensiv kümmert sich Laure um Jeanne und beschäftigt sich mit ihr, während die Eltern sich ganz auf die bevorstehende Geburt eines dritten Kindes konzentrieren. So hält Jeanne zu Laure, als sie zufällig mitbekommt, dass Laure sich Lisa und den anderen Kindern gegenüber als Michael ausgibt. Die Sache fliegt erst nach einer Rauferei mit einem Jungen auf, als dessen Mutter sich bei Laures Mutter über "Michael" beschwert. Letztere beharrt darauf, dass Laure die Sache wieder in Ordnung bringen muss. Laure fällt das bei Lisa besonders schwer. Aber da die Schulferien bald vorbei sind und Laure als Michael dann große Probleme in der Schule hätte, beugt sie sich dem Diktat der Mutter.

Inhaltlich, ästhetisch und sogar produktionstechnisch ist dieser kleine Film außergewöhnlich. Statt mit einer gängigen Filmkamera wurde er mit einer Canon Fotokamera gedreht und mit einem Minimalbudget von 500.000 Euro in Rekordzeit von nicht einmal einem halben Jahr realisiert, vom Beginn des Drehbuchschreibens Ende März bis zum Dreh im Sommer. Auch die reine Drehzeit ist mit nur 20 Tagen rekordverdächtig, denn mit Kindern als Hauptdarstellern verlängert sich im Normalfall die Drehzeit allein schon aus schutzrechtlichen Gründen. Die drei jungen Hauptdarstellerinnen wirken absolut authentisch und spielen ihre Rollen fast dokumentarisch. Bei Zoé Heran in der Rolle von Laure beziehungsweise Michael kam hinzu, dass sie über ihre Tomboy-Qualitäten auch realiter ein klares Bewusstsein hat und die Nebenrollen der Kinder alle mit ihren Freunden aus dem wahren Leben besetzt worden sind. Gefunden wurde sie über eine Casting-Agentur. Sie war gleich die erste, die beim Casting vorsprach und sie bekam auch sofort die Rolle. Seine große Intensität gewinnt der Film vor allem durch das zarte klare Gesicht der Hauptdarstellerin, die in vielen Großaufnahmen und Nahaufnahmen zu sehen ist. Selbst bei den sehr kurzen Nacktszenen wirkt das niemals voyeuristisch, sondern steht ganz im Dienst der Geschichte und der Charakterisierung des Mädchens.

Auch in pädagogischer Hinsicht wird hier keine Botschaft aufgesetzt. Es handelt sich weder um einen Lehrfilm, wie mit solchen Tomboy-Kindern (besser) umzugehen sei, noch um einen im engeren Sinn lesbischen Film, in dem die mögliche frühe Ausrichtung auf das gleiche Geschlecht thematisiert würde. Alles bleibt offen, Schubladen werden weder geöffnet noch geschlossen. In Erinnerung bleibt stattdessen ein gut beobachteter, hervorragend inszenierter und authentisch wirkender Film über Freundschaft, Geschwisterliebe und Gender-Probleme von Kindern noch vor dem Eintritt in die Pubertät. Vor allem aber ist der Film ein positives Beispiel einer von Achtung und Respekt getragenen Geschwisterbeziehung, die autobiografische Züge der Regisseurin trägt und im kritisierbaren, aber wohl konsequenten Verhalten der Filmeltern eine würdige Entsprechung findet.

Holger Twele

 

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