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Ausgabe 127-3/2011

SHE MONKEYS

APFLICKORNA

Produktion: Atmo Media Network AB / Film i Väst /SVT / Kameraten / Nordisk Film Post Production; Schweden 2011 – Regie: Lisa Aschan – Buch: Josefine Adolfsson, Lisa Aschan, Helene Lindholm (Dramaturgie) – Kamera: Linda Wassberg – Schnitt: Kristofer Nordin – Musik: Sami Sänpäkkilä – Darsteller: Mathilda Paradeiser (Emma), Linda Molin (Cassandra), Sergej Merkusjev (Ivan), Isabella Lindquist (Sara), Kevin Caicedo Vega (Sebastian), Adam Lundgren (Jens), Sigmund Hovind (Tobias), Nasrin Pakkho (Schwimmlehrerin), Maria Hedborg (Reitlehrerin), Elin Söderquist (Bademeister) u. a. – Länge: 83 Min. – Farbe – Weltvertrieb: The Yellow Affair, Stockholm, Tel. +46-6451212, email: contact@yellowaffair.com – Altersempfehlung: ab 14 J.

Die 14-jährige Emma wohnt zusammen mit ihrer siebenjährigen Schwester Sara und ihrem alleinerziehenden Vater. Als Emma neu in eine Voltigiergruppe kommt, lernt sie die erfahrene Kunstreiterin Cassandra kennen. Die eher schüchterne und zurückhaltende Emma bewundert die charismatische Cassandra für ihr Selbstbewusstsein und für ihre Stärke. Mit ihren beherrschten, kraftvollen Bewegungen auf dem Pferderücken zieht Emma schnell Cassandras fordernde Blicke auf sich. Die (auch sexuelle) Anziehungskraft zwischen den beiden Mädchen, die groß, blond und amazonenhaft sind, ist durchaus beiderseitig. Bald verbindet sie eine ungewöhnliche Freundschaft, sie scheinen unzertrennlich zu sein und geraten in eine emotionale Abhängigkeit: Cassandra übernimmt das Kommando und legt die Regeln fest, doch je enger ihre Freundschaft wird, umso stärker kämpft Emma gegen diese Vereinnahmung. Sie will die Kontrolle über sich und ihren Körper nicht verlieren, das führt zu Komplikationen, Missverständnissen und Streit. Zwischen den beiden Freundinnen geht es schon bald um Eifersucht, Neid und Macht – und schließlich um das Verlangen nach der Übermacht. Höhepunkt wird ihr Duell um einen Platz im Kunstreitteam zur Teilnahme an der Meisterschaft.

In einem komplexen, ausgeklügelten Szenario führt der subtile und sinnliche Film, der an die frühen Werke von Bigas Luna und Pedro Almodovar erinnert, in einen scheinbar hermetisch abgeschlossenen Kosmos: Während Tiere wie Emmas Hund auf Kommando tun, was man verlangt, wissen Menschen sich gegen Kontrolle und Manipulation zu wehren. Die Beziehungen der beiden Mädchen sind geprägt von Erfahrungen und vor allem von Bildern, die der Film nicht zeigt, die Außenwelt mit ihren Idealen und Idolen bleibt weitgehend außen vor, aber die Auswirkungen dieser in den Medien vorgeführten Verhaltensmuster sind immer spürbar und wiederzuerkennen. Der formal strenge Film gibt kein Urteil ab, er breitet seine Szenen über gegenseitige sexuelle Kontrolle, kumpelhafte Kameradschaft und perfide Machtkämpfe aus und löst sich von den gängigen Klischees über pubertierende Mädchen: Diese Mädchen verhalten sich bei ihrem Psychoduell eher wie Jungs, sie sind gewalttätig, hantieren mit Gewehren und messen in gefährlichen Mutproben ihre Kräfte. Die sehr enge Freundschaft steht in einem Spannungsverhältnis zwischen Macht und Ohnmacht, sie mündet in einem Abhängigkeitsverhältnis, aus dem sich beide nur mit Schmerzen befreien können.

Es hat wohl selten einen solch durch und durch sexualisierten Film gegeben, doch explizite Sexszenen sind im Machtkampf um Reitklub und Liebe zwischen Emma und Cassandra, die voneinander angezogen sind, nicht zu sehen: Egal, ob der Vater mit seiner kleinen Tochter Sara das Bett teilt, das Mädchen im Bikini im Kinderpoolbecken mit eindeutigen Porno-Posen zwei Feuerwehrjungs anmacht oder die frühreife Sara mit einem Leopardenbikini-Tanz ihren zehn Jahre älteren Cousin verführen will und ihm im Bett streichelnd ihre Liebe gesteht – immer sind die Situationen sinnlich aufgeladen. Als Quelle für ihren Film benennen die Autorinnen Josefine Adolfsson und Lisa Aschan das obsessiv-erotische Buch "L'histoire de l’oeil" von Georges Bataille (1897-1962), der sein Werk über pubertäre Erotik, Tod und Unbewusstes 1928 noch unter Pseudonym veröffentlichen musste, da ihm Polizei und Prozess drohten. Im Gegensatz zu Bataille, bei dem erotische Erfahrungen immer Überschreitungen von Tabus sind, ist der Film ein raffiniertes Spiel mit der Erwartung, dass gleich Grenzen überschritten und sich Tabubrüche ereignen werden. Ein unheimliches Abbild westlicher Sexwelten von Werbung und Musik bis Kino. Geradezu scheu nehmen sich dagegen Cassandras lesbische Annäherungen aus, die für ihre Zuneigung einem Jungen die Sextour bei Emma vermasselt und mit Vergewaltigungsanzeige droht – passend zur aktuellen Sex-Debatte in Schweden. Ein doppelbödiger Film, der auch andere Lesarten zulässt: Emmas symbiotische Freundschaft zu Cassandra zwischen Begierde und Unnahbarkeit wirkt bisweilen so, als stünde ihr ein Teil ihres Selbst gegenüber.

Manfred Hobsch

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 127-3/2011 - Interview - Eine Welt voller Abhängigkeiten

 

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Ausgabe 127-3/2011

 

Inhalt der Print-Ausgabe 127-3/2011|

Filmbesprechungen

ARRIETTY – DIE WUNDERSAME WELT DER BORGER| HARRY POTTER UND DIE HEILIGTÜMER DES TODES – TEIL 2| LES CONTES DE LA NUIT| MIT ERHOBENEN HÄNDEN| ON THE ICE| SEPPI UND HIAS| SHE MONKEYS| SINTFLUT| DER VERLORENE SCHATZ DER TEMPELRITTER| YUKI & NINA| DIE ZAUBERER|

Interviews

Aschan, Lisa - Eine Welt voller Abhängigkeiten| Báez, Irina Gallardo - "Hannelore wollte, dass ich die Isabel spiele, und nicht, dass ich die Isabel bin."| Gratza, Ellen - "Ich sehe das Kinderfilmfest auch als Experimentierfeld für Medienarbeit"| MacLean, Andrew Okpeaha - "Wir können unsere eigenen Geschichten erzählen und der ganzen Welt zeigen, wie wir sind."| Nattiv, Guy - "Kindheit ist sehr intensiv. Auch was die Schmerzen betrifft"| Ocelot, Michel - "Lotte Reiniger hatte diese tolle Idee mit den Silhouetten und ich bin ihr Erbe"| Rieman, Ziska und Luci van Org - "Wir wären ein schönes Duo Infernale gewesen"| Schesch, Stephan - "Die Schublade Trickfilm gleich Kinderfilm ist sehr deutsch"| Sommer, Gudrun - "Der DEFA-Kinderdokumentarfilm hat seine Spuren hinterlassen"|

Hintergrundartikel

Förderung von Kinderfilmen nach Originalstoffen|


KJK-Ausgabe 127/2011

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