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Ausgabe 127-3/2011

"Hannelore wollte, dass ich die Isabel spiele, und nicht, dass ich die Isabel bin."

Gespräch mit Irina Gallardo Báez, Darstellerin der Isabel in dem DEFA-Kinderfilm "Isabel auf der Treppe" von Hannelore Unterberg

(Interview zum Film ISABEL AUF DER TREPPE)

In der Reihe "Die Ausgrabung" präsentierte das Deutsche Kinder-Medien-Festival GOLDENER SPATZ in diesem Jahr den DEFA-Film "Isabel auf der Treppe", der 1985 auf diesem Festival von der Jury des jungen Publikums ausgezeichnet wurde. Zu den Vorführungen konnten mit Unterstützung der DEFA-Stiftung Irina Gallardo Báez aus Santiago de Chile, ihre Filmmutter, die chilenische Schauspielerin Teresa Polle aus Berlin, und die Regisseurin Hannelore Unterberg eingeladen werden. Irinas acht Jahre älterer Bruder Ivan Gallardo, der als Theaterschauspieler in Deutschland lebt und arbeitet, übersetzte die Filmgespräche und dieses Interview.

KJK: Irina, wie alt warst du bei den Dreharbeiten zu "Isabel auf der Treppe"?
Irina Gallardo Báez: Ich bin kurz vor dem Putsch der Militärs gegen Salvador Allende am 8. Juli 1973 in Chuquicamata, der größten Kupfermine der Welt, geboren. Mein Vater Fernando, Schauspieler von Beruf, war dort der Kulturverantwortliche und unsere Mutter – sie ist Architektin – hat damals in einem Architekturplanungsbüro gearbeitet. Bei den Dreharbeiten 1982 war ich dann zwischen neun und zehn Jahre alt.

Du spielst in dem Film ein chilenisches Mädchen, das mit seiner Mutter im Exil in der DDR lebt – ein ähnliches Schicksal wie deines. Wann habt ihr Chile verlassen?
Ich bin 1981 mit meinen Eltern ins Ausland gegangen. Ivan blieb noch bei den Großeltern in Santiago de Chile, um die Schule zu beenden, und ist im Februar 1982 nachgekommen, direkt in die DDR. Meine Eltern waren beide in der KP Chiles. Mein Vater war festgenommen worden, wurde aber sehr bald wieder durch den Druck der internationalen Solidarität freigelassen. Dass er ein berühmter Schauspieler war, hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Auch meine Mutter wurde von der Geheimpolizei Pinochets gesucht und musste untertauchen. Mehrere Monate war sie versteckt, dann hieß es: Irina, packe deine Sachen, wir fahren ins Ausland. Genau an meinem Geburtstag, am 8. Juli 1981, sind wir in Paris angekommen. Ich bekam mein erstes Parfüm geschenkt und habe den Eifelturm gesehen. Die nächsten Stationen waren Venedig und Rom. Dort habe ich bei Verwandten gewohnt und bin zur Schule gegangen, während meine Eltern durch ganz Europa gereist sind und ein Land gesucht haben, das uns als Emigranten aufnimmt. Irgendwann holten mich meine Eltern ab, weil uns die DDR aufgenommen hatte. Ich kann mich noch entsinnen, wir sind in Berlin-Ost mit dem Zug angekommen und mein Vater machte mit mir eine Wette: Wenn du hier jemanden findest, der auf der Straße bettelt, dann schenke ich dir fünf DDR-Mark. Ich habe die Wette verloren, weil es hier keine Bettler, so wie ich es von Chile her kannte, gab. Das war für mich der erste Eindruck von der DDR.

Wie bist du für die Rolle der Isabel entdeckt worden?
Wir lebten zuerst in Jena und sind später nach Potsdam umgezogen. Dort landeten wir im Wohngebiet "Stern" und ich kam auf die Juri-Gagarin-Oberschule. Und irgendwann sind Filmleute in diese Schule gekommen und haben chilenische Mädchen für "Isabel auf der Treppe" gesucht. Als ich erfuhr, dass das Filmprojekt meine Ferien in Anspruch nehmen würde, habe ich nein gesagt. Ich wollte mit meinen Freundinnen unterwegs sein und Ferien machen. Aber dann meinte mein Vater: Irina, das ist die Möglichkeit deines Lebens! Und dann kam auch noch Hannelore zu mir nach Hause, hat lange mit mir gesprochen und mich letztendlich überzeugt.

Wie hast du dich mit der Regisseurin Hannelore Unterberg verstanden?

Hannelore mochte ich sehr. Sie hatte eine sehr große Geduld und eine unglaubliche Phantasie, mir alles zu erklären. Mein einziges Problem war nur, dass mir Mario, der im Film den Philipp spielt und mein Freund ist, überhaupt nicht gefallen hat. Er war so ein bisschen pummelig und nicht mein Typ. Aber im Endeffekt haben wir alles geschafft. Auch diese Kuss-Szene. Aber ich weiß, dass ich damals gefragt habe: Warum muss ich ihn küssen und nicht er mich? Er ist doch der Mann!

Wie hat Hannelore Unterberg mit dir gearbeitet?

Wir haben nie über das große Thema des Films gesprochen, sondern sind Szene für Szene vorgegangen. Sie hatte die Furcht, dass mir die Rolle der Isabel so nahe kommen könnte, dass ich davon traumatisiert werden könnte. Deshalb wollte sie, dass ich die Rolle von Isabel spiele, und nicht, dass ich Isabel bin. So hat mich Hannelore immer als Schauspielerin behandelt, sie hat nie versucht, private Erfahrungen von mir abzuschöpfen, sondern sie sprach immer in dem Sinne: Ich brauche es, dass die Rolle die und die Gefühle zeigt.

Was das Leben der Isabel in der DDR betraf, konntest du da an eigene Erfahrungen anknüpfen?

Diese Geschichte hat mit mir persönlich als Kind, das in der DDR lebte, nichts zu tun. Denn die schönste Zeit in meinem Leben war die in der DDR.

Im Film gibt es eine Szene, in der Frau Perez erzählt, dass sie niemand in der Kaufhalle, also im Supermarkt, verstanden hat. Hast du ähnliche Situationen als Kind in einem fremden Land erlebt?

Einmal da wollte mein Vater Saft kaufen, hat aber mehrere Flaschen Sirup gekauft und gedacht, den kann man so trinken wie Saft. Der erste kräftige Schluck, den wir nahmen, war so eklig, so süß und klebrig! Solche merkwürdigen Sachen passierten immer wieder, wir mussten die neue Lebensweise erst kennen lernen. Ansonsten bin ich in der DDR unglaublich behütet worden. Ich war am Anfang sehr viel mit Erwachsenen zusammen. Es waren Leute, die mich lieb gehabt haben. Man hat mir ständig über den Kopf gestrichen oder Eis geschenkt, meine Klassenlehrerin hat mich auch sehr gemocht und mich einmal sogar zu sich nach Hause zum Abendbrot eingeladen. Also ich habe nur wunderschöne Erinnerungen an damals. In Jena bekamen wir eine Wohnung und Geld, damit wir uns einrichten konnten. In Chile hatten wir nur Hocker, das war für mich ein Zeichen von Armut. Und plötzlich konnten wir uns Stühle, Sofas, Schränke und Teppiche kaufen. Ich habe mich wie ein reiches Mädchen gefühlt.

Du hast jetzt beim GOLDENEN SPATZ den Film zum ersten Mal im Kino gesehen. Wie wirkt er heute auf dich?
Das stimmt. Ich hatte damals eine Rohfassung mit meiner Klasse gesehen, aber die eigentliche Premiere konnte ich nicht mehr erleben, weil ich mit meiner Mutter nach Santiago de Chile zurückgegangen bin (weint). Am meisten hat mich die Szene, als sich die Freunde und Verwandten in Isabels Wohnung treffen, berührt. Ich hatte nicht mehr in Erinnerung, dass mein Vater, der leider inzwischen gestorben ist, da mitspielte. Ich fühlte Glück, Trauer, alles in einem. Das hat mich sehr bewegt. Insgesamt empfinde ich eine Nostalgie, eine Wehmut, wenn ich diesen Film sehe.
Es ist wichtig, dass dieser Film gezeigt wird, weil er eine Geschichte über ein Land erzählt, das vielen Kindern Asyl gegeben hat und das heute nicht mehr existiert. Heutzutage ist es lästig und überhaupt nicht modern, Erinnerungen zu haben. Das ist Wahnsinn! Wir müssen uns erinnern, was Menschen sich für schlimme Sachen angetan haben, damit solch schreckliche Taten nicht mehr wiederholt werden. Deshalb waren die Gespräche nach dem Film mit den Kindern auch so wichtig. Überhaupt war es fantastisch und unbeschreiblich schön für mich auf dem Festival. Ich fühlte mich wie auf einem anderen Planeten! Andererseits hat mir der Besuch in Deutschland wieder einmal gezeigt, dass das Leben, das in Lateinamerika und das in Europa geführt wird, völlig unterschiedlich ist. Bei der Veranstaltung "Blick in die Werkstatt" beispielsweise war ich erstaunt, dass Filmleute von Millionen reden, während wir in Lateinamerika mit nichts und aber nichts unsere Projekte zustande bringen müssen und auch zustande bringen. Ich muss sagen, ich liebe es, immer wieder nach Europa zu kommen, aber ich werde mein Chile nicht tauschen, mein Chile! Ich bin eine Weltbürgerin und mir macht es viel Spaß, durch die Welt zu reisen, aber die Projekte, die wir jetzt in Chile in Gang gesetzt haben, machen so viel Spaß, dass ich sie nicht allein lassen will.

Was sind das für Projekte?
Ich habe nach der Schule eine Schauspielausbildung gemacht und später eine Zirkusschule in Rio de Janeiro besucht. Durch einen Unfall konnte ich nicht weiter studieren und bin zurück nach Santiago de Chile geflogen. Später bin ich nach Barcelona gegangen und lernte dort die Theatertruppe "Narrenschiff" aus Amsterdam kennen. Diese Truppe lebt auf einem Schiff und fährt verschiedene Häfen in Europa an, um dort Theater zu spielen. Mit dem "Narrenschiff" war ich in Island, Holland, Irland und Finnland. Heute habe ich einen Sohn, Cillian Fernando, und eine Tochter, Jean Kayla, und lebe wieder in Santiago de Chile. Ich arbeite in einem Gefängnis mit der höchsten Sicherheitsstufe. Mit den Männern dort habe ich versucht, Theater zu machen. Das war aber zu schwierig, deshalb fertigen wir jetzt aus Tetrapacks, Bierbüchsen und Stoffresten Portemonnaies, Taschen und Ohrringe. Am Wochenende mache ich Performances zusammen mit der Theatergruppe von Irina la Loca.

Mit Irina Gallardo Baez sprach Barbara Felsmann

 

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