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Ausgabe 130-2/2012

LAL GECE

NIGHT OF SILENCE

Produktion: KAZ Film Production; Türkei 2011 – Regie und Buch: Reis Çelik – Kamera: Gökhan Tiryaki – Schnitt: Reis Çelik – Darsteller: Ilyas Salman (Bräutigam), Dilan Aksut (Braut) sowie Mayseker Yücel, Sabri Tutal, Sercan Demirkaya, Ahmet Aydin – Länge: 92 Min. – Farbe – Vertrieb: AF Media (DE) und AF Media (TR) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Der Film beginnt auf einem Dorf-Friedhof im Osten der Türkei und endet mit dem Tod. Ein festlich gekleideter älterer Mann von untersetzter Statur, mit melancholischem Gesicht und einem Ehrfurcht gebietenden Schnurrbart, geht auf ein weißes Grab zu – ein schwerer Gang für den Mann, der wegen zweier Ehrenmorde fast sein ganzes Leben im Gefängnis verbracht hat. Schuld daran ist eingestandenermaßen sein Onkel, der ihm nun Glück wünscht zu seiner unmittelbar bevorstehenden Hochzeit, mit der er eine lange blutige Familien-Fehde beenden soll. Die Braut im perlengeschmückten weißen Kleid mit rotem Brautschleier und Schärpe wird, begleitet von einer Reiter-Eskorte, in einem ebenfalls rot und weiß geschmückten Wagen ins nächste Dorf gefahren. Am Wegrand  beobachtet ein junger Mann die Abfahrt 'seines' Mädchens und reitet dann an den schneebedeckten Feldern vorbei. Am Festplatz hat sich schon das ganze Dorf versammelt. Tische im Freien, der Klang von Trommel und Zurna, die Männer feiern getrennt von den Frauen, die der Braut im Schlafzimmer ihres neuen Hauses ihre Geschenke bringen und verschwinden. Die Mutter hebt den Brautschleier der Tochter an und spricht beschwörend: „Nun bist du zuhause. Sei glücklich, sei friedlich. Bring deinen Mann, deine Schwiegermutter, deinen Schwiegervater nicht in Verruf. Weine nicht, mein Liebes. Wir sind alle so verheiratet worden. Das ist dein Herd und das ist dein Haus. Hier ist das Jungfrauentuch. Wenn die Zeit des Morgengebets kommt, werden wir an die Tür klopfen und du wirst das Laken zusammenlegen und uns geben. Ich gehe jetzt. Selbst wenn dein Mann dich schlägt oder beschimpft, wirst du niemals das Haus verlassen. Hab eine gute Nacht!“

Zurück bleibt die Braut auf dem Bett, faltet und knetet die mit Henna gefärbten Hände, betrachtet die neuen Armreifen, den Ring, die neuen güldenen Schuhe, wippt mit den Füßen, die nicht mal bis zum Boden reichen. Männer mit Fackeln begleiten den Bräutigam, stoßen ihn in das Schlafgemach und auch für den Zuschauer schließt sich die Tür. Wir werden bis zum Ende des Films mit dem Brautpaar in dem Schlafgemach eingesperrt bleiben und einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt werden. Erst der Schock über die Jugend der Braut: Als der Bräutigam ihr die Halskette anlegt und ihr vorsichtig den Schleier abnimmt, erkennt man mit ihm, dass sie höchstens 13, 14 Jahre alt ist. Sie ist total verängstigt, er versucht ihr die Angst zu nehmen, doch wenn er ihre im Schoß liegenden Hände anfasst, erschrickt man selbst vor der Berührung. Als von draußen Geräusche ertönen, löscht er das Licht und rennt mit seiner Pistole zum Fenster. Man denkt an den jungen Mann, aber als die Braut aus Furcht vor der Dunkelheit das Licht wieder anmacht, passiert nichts. Einmal sieht es so aus, als wollte der Bräutigam fort, getroffen von einer Bemerkung, die ihm sein Alter schmerzlich bewusst macht. Eigentlich wissen beide nicht recht, wie sie tun sollen, was von ihnen erwartet wird. Er scheut sich, sie mit Gewalt zu nehmen; sie versucht, den kritischen Moment so lange wie möglich hinauszuzögern.

Ein taktisches Spiel hebt an, wobei sie sich als eine würdige Nachfolgerin der Scheherazade erweist. Mit ihren kindlichen Reaktionen, ihrer Intelligenz und ihrem unschuldigen Charme verwickelt sie ihn in Diskussionen über seine Holz- und ihre Stickarbeiten und über die Form ihrer schönen Augen. Sie bringt ihn sogar dazu, mit ihr auf dem Bett das Fadenspiel zu spielen und ihr die ganze Geschichte von der mythischen Schlangengöttin Shahmaran und ihrer Liebe zum Menschensohn Camsab zu erzählen. Am Ende muss er sich auch noch den Bart abrasieren … Der Verlauf dieser einzigartigen Nacht bringt ihn, der fast als Kind noch die eigene Mutter ermordet hat, zu der Einsicht, dass er sein ganzes Leben im Namen von Tradition und Familie immer nur den Willen anderer befolgt hat. Beim Morgengrauen ist die Hochzeit noch immer nicht 'vollzogen'. Dafür fällt ein Schuss.

Mit "Lal Gece" ist Reis Çelik ein zutiefst humaner Film gelungen, der in einzigartiger Weise vorführt, dass das System der Zwangsehe nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer seit Jahrtausenden unterdrückt. Dabei geschieht auch in dieser "Stillen Nacht" ein Wunder: das Wunder, dass sich der alte Mann und das Mädchen von ihren vorgegebenen Rollen ein Stück weit emanzipieren und allmählich als menschliche Individuen nahe kommen. Unter Çeliks einfühlsamer Regie verfolgt man atemlos vor innerer Anspannung das natürliche, restlos überzeugende Spiel von Ilyas Salman und Dilan Aksut. Da wird kein Wort zu viel gesprochen, wird die Intimität der Szenen nie durch Filmmusik banalisiert und die Geschichte in Bildern festgehalten, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Uta Beth

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 130-2/2012 - Interview - "Weil so viele Menschen unter der Zwangsverheiratung leiden"

 

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Ausgabe 130-2/2012

 

Inhalt der Print-Ausgabe 130-2/2012|

Filmbesprechungen

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Interviews

Çelik, Reis - "Weil so viele Menschen unter der Zwangsverheiratung leiden"| Francken, Sander - Gemeinsamkeiten in den Kulturen entdecken| Genz, Sabine - Medienkonsum braucht Kompetenz – Filmbildung durch die SchulKinoWochen| Herrmann , Jörg - "Krabat" in Silhouetten-Tricktechnik mit einem Bezug zur Lausitz| Koole, Boudewijn - "Ich konnte und kann das immer noch nicht glauben"| Schmid , Alice - "Keine Erklärungen, kein Kommentar"| van Kilsdonk, Nicole - "Ganz dicht an die Hauptfigur heran"|

Hintergrundartikel

DIE KINDER VOM NAPF|


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