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Ausgabe 130-2/2012

"Weil so viele Menschen unter der Zwangsverheiratung leiden"

Gespräch mit Reis Çelik, Regisseur des Films "Lal Gece"

(Interview zum Film LAL GECE)

Der Film von Reis Çelik wurde von der Jugendjury der Berlinale / Generation 14plus mit dem "Gläsernen Bären" ausgezeichnet.

KJK: Was hat Sie bewogen, diesen Film zu machen?
Reis Çelik: Die Zwangsverheiratung ist in der Türkei ein sehr wichtiges Thema. Seit meiner Kindheit habe ich diese Hochzeits-Geschichten von meiner Mutter und meinen Tanten gehört, und für mich als Filmemacher ist es sehr wichtig, die Wirklichkeit und die Probleme des Volkes auf die Bühne, auf die Leinwand zu bringen.

Stichwort Bühne. "Lal Gece" wirkt ja fast wie ein Theaterstück ...
Das Leben ist ein Bühnenstück – z. B. wenn wir heiraten, die ganze Zeremonie und alles, das ist doch wie im Theater.

Sicher – "die ganze Welt ist eine Bühne", aber ich dachte jetzt bei "Lal Gece" weniger an Shakespeare als an die Form.
Als ich das Drehbuch geschrieben habe, habe ich auch gedacht, dass es ein Kammerspiel sein könnte, aber in einem Theaterstück wäre es sehr schwierig, diese Traumszene zu inszenieren, diese Konfrontation mit der Realität, in der alles auftaucht, was der Bräutigam in seinem Kopf gehabt hat: seine Mutter, seine Träume und die Frage, ob der rote Schleier ein Blut-Fleck ist. In Wahrheit ist dieser Traum ein Albtraum – und um all das zu zeigen, hat das Kino einfach mehr Möglichkeiten. Als ich das Drehbuch schrieb, habe ich mich auch entschieden, die Geschichte ganz ohne Rückblenden, ohne Kindheitserinnerungen zu erzählen, was zwar einfacher gewesen wäre, aber nicht in den Film passte.

Sie erzählen sie erst aus der Perspektive des Mädchens und dann aus der des Bräutigams.
Wenn ich sie ganz aus der Sicht des Mädchens erzählt hätte, wäre das eine hochdramatische Geschichte geworden, in der man nur den Opfer-Status des blutjungen Mädchens, das die Ehe nicht gewollt hat, dargestellt hätte. Es wäre auch zu einfach, wenn ich ihr den Typ des wilden, gewalttätigen Patriarchen mit dem Bart und den großen Schultern, der das Mädchen einfach nimmt, zur Seite gestellt hätte. Kunst soll das nicht machen. Kunst muss, um der Gesellschaft den Spiegel vorhalten zu können, die einzelnen Aspekte der Realität, ihre verschiedenen Facetten und Hintergründe zeigen und analysieren, wie es dazu gekommen ist. Indem ich die Situation des Mannes innerhalb dieses Systems mit einbeziehe, erreiche ich ein sehr viel breiteres Spektrum. Es werden ja beide Geschlechter durch Religion und Traditionen über Jahrtausende unterdrückt. Interessant dabei ist: Als ich zur Vorbereitung des Films einige Reportagen mit Frauen durchgeführt habe, die schon sehr früh verheiratet worden sind, haben diese überraschenderweise gesagt: "Für uns war die Verheiratung ein Glück, eine große Chance, um aus dem Elternhaus heraus zu kommen." Für ein Mädchen von gerade 14, 15 Jahren sei es nämlich eine Katastrophe, in einer großen Familie zu bleiben, unerträglich, weil es dann keinerlei Freiheiten hätte, Dienstmädchen für alle Männer im Haus wäre, also viel arbeiten und auch viel Gewalt erleiden müsste.
Aber auch die Männer stehen unter Druck. In meinem Film ist der Bräutigam jemand, dem man als Kind aufgetragen hat, seine Mutter zu töten, um die Ehre des Clans zu retten. Die Blutrache gibt es immer noch, sogar in der Stadt, weil viele Dörfler ja in die Stadt gezogen sind, und es müssen immer die Kinder bis zu 17 Jahren sein, die das mörderische Geschäft erledigen, weil sie noch nicht strafmündig sind. Und das geht so von Generation zu Generation, es ändert sich nie. Das hat man immer als normal hingenommen und tut es noch heute, denn wenn in einer Gesellschaft eine Mehrheit bereit ist, eine Straftat zu begehen oder zu billigen, ist es de facto keine Straftat mehr. Aber ich denke, Kunst kann sehr wirksam sein, wenn man fragt, ob man wirklich bereit ist, alles so hinzunehmen.

Wer ist der junge Mann in dem Film?
Er ist der potentielle Liebhaber, der schon ein Auge auf das Mädchen geworfen hat, das ihm nun weggenommen wird. Er ist auch so ein Phänomen, das es bei all solchen Hochzeiten gibt. Immer steht da ein junger Mann im Hintergrund, der das Ganze von außen beobachtet, immer präsent ist, wartet, dass etwas passiert, aber es passiert nichts. Und er selbst handelt auch nie, wartet nur immer, dass etwas geschieht. Dass der junge Mann statt einzugreifen in dem Film irgendwann verschwindet, ist ein Symbol dafür, dass die Gesellschaft diese Dinge akzeptiert. Ich möchte damit zugleich andeuten, dass die Generation der jungen Männer eines fernen Tages aber doch diese ganze Heirats-Zeremonie zerstören, die Braut wegnehmen und damit den Lauf der Dinge blockieren wird. Noch aber ist es nicht so weit.
Hier ist das alles nur schwer zu begreifen. In Europa ist es ja kein Problem, einer 14-Jährigen zu sagen, dass man gern mit ihr ausgehen möchte. Und wenn sie dann nein sagt, ist das eine Enttäuschung, aber keine Katastrophe. In dieser Kultur des Ostens kann sich kein junger Mann leisten, seinen Wunsch nach Kontakt einem bestimmten Mädchen gegenüber zu artikulieren. Er kann nur von ferne gucken, gucken, und wenn er schließlich auf sie zugeht und sich entsprechend äußert, sie ihn dann aber abweist, gilt das als unehrenhafte Beleidigung – und es muss Blut fließen. Ein Beweis dafür, wie gefährlich das Männer-Ego ist: Es steht so hoch und wenn es dann platzt, gibt es nur noch Mord. In den letzten 20 Minuten meines Films ist die Kamera fixiert auf den Mann – und man sieht, dass da eigentlich nichts ist, und er, wenn man ihn nur genug provoziert, bereit ist, alles auszusprechen.

Aber dass sich der alte Mann und das Mädchen im Morgengrauen fast gleichwertig als Menschen begegnen, ist für mich das Wunder dieser "Night of Silence", dieser "Stillen Nacht".
Wunder ist für mich immer die bittere Wahrheit. Dazu muss man wissen, dass "Lal Gece" übersetzt "Nacht des Schweigens" heißt, wobei lal stumm und gece die Nacht ist. Aber es hat darüber hinaus bei uns und im Iran, in Aserbeidschan, Georgien und auch in Armenien noch eine andere, tiefere Bedeutung: Damit bezeichnet man etwas, das man eigentlich nicht aussprechen darf, was man sich scheut, zu benennen. Die Übersetzung mit stumm ist da nicht ausreichend. "Lal Gece" ist ein Ausdruck für alles, was die Gesellschaft in sich trägt und nie aussprechen darf, nie aussprechen kann.

Wo haben Sie die hervorragende Darstellerin des jungen Mädchens gefunden?
Wir haben uns Hunderte von Mädchen angesehen, meine Assistentin hat schließlich gesagt: "Du magst keine und jetzt bringe ich dir noch ein letztes Mädchen, das ist eine Verwandte des künstlerischen Direktors, die hat mit Kino überhaupt nichts zu tun." Und als ich Dilan Aksut von der Treppe aus habe hochkommen sehen, wusste ich sofort: Ja, das ist sie, sie entspricht genau dem Bild, was ich in meinem Kopf habe. Sie hat dann auch wunderbar mit Ilyas Salman zusammen harmoniert. Er ist ein berühmter Komödiant, der viel im Theater und in vielen Filmen gespielt, sich aber auch als Regisseur und Schriftsteller einen Namen gemacht hat. Nur er konnte diese schwierige Rolle schaffen.

Wo spielt "Lal Gece" eigentlich?
Irgendwo in der Türkei oder irgendwo im Westen. Ich habe absichtlich keine Namen benutzt, keinen Dialekt,  das kann sich sonst wo zutragen.

Und wo wurde der Film gedreht?
In der Provinz Ardahan im Nordosten der Türkei, ganz in der Nähe der armenischen Grenze. Dort wurde ich 1961 geboren, dort habe ich meine Kindheit verbracht, kenne also die Dörfer und die Landschaft sehr gut. Dass ich da gedreht habe, hat zwei Gründe: Erstens gibt es dort diese Zwangsheiraten, wenn auch nicht so häufig wie in anderen türkischen Städten, und zweitens konnte ich dort auf die Unterstützung der Dorfbewohner zählen. Das war für diese Arbeit sehr wichtig.

Wo befindet sich der Friedhof, auf dem der Film anfängt?
In Cildir. Das liegt fast direkt an der Grenze zu Armenien und keine 70 km zu der von Georgien. Dort hält der Bräutigam innere Einkehr am Grabmal des Troubadors Asik Senlik, der von 1850 bis 1913 lebte und in Anatolien, Armenien, in Georgien und im Iran wegen seiner epischen Gesänge berühmt ist.

Ihre Bildkompositionen erinnern mich an den georgischen Filmemacher und Collage-Künstler Sergeij Parajanow. Auch an so manchen iranischen Film.
Ich finde es sehr wichtig, dass ein Erzähler die Farben und Geschichten seiner eigenen Welt benutzt – eine kleine Blume am Fuße des Ararat und ein Blümchen irgendwo in Kalifornien können die gleiche Aussagekraft haben, alles kann universell sein und man kann in der eigenen Region bleiben, um Universalität zu finden. Und was Parajanow betrifft – den bewundere ich! Er könnte mein Großvater sein, weil der so ähnliche Geschichten erzählt hat. Es gibt ja bei uns, also in Ost-Anatolien, im Iran, in Aserbeidschan, in Georgien und Armenien eine Erzählkultur aus der Zeit, als es kaum Bücher und noch kein Fernsehen gab. Da haben die alten Leute Geschichten erzählt und alle haben zugehört.

Kommt "Lal Gece" in der Türkei raus?
Ja, der Film wird ab Mai in den Kinos gezeigt.

Und wird es Schwierigkeiten geben?
Warum stellen Sie diese Frage?

Weil ich denke, dass das Thema Sprengstoff in der türkischen Gesellschaft ist.
Diese Frage impliziert, dass man in unserer Gesellschaft keinen kritischen Blick auf diese Geschichte werfen kann, aber das stimmt so nicht. Man wird einsehen, dass diese Geschichte erzählt werden muss, weil so viele Menschen unter der Zwangsverheiratung leiden – Männer wie Frauen. Sie alle sind Opfer dieser Traditionen. Niemand wird sagen: "Sie brechen damit Tabus…"
Als ich 1996 meinen ersten Film "Let there be light" über den Konflikt zwischen kurdischen Rebellen und der türkischen Regierung gedreht habe, war es noch sehr gefährlich, wenn man nur das Wort Kurde gesagt hat. Dafür hätte man schon eine Strafe von 15 Jahren kriegen können. Wir haben den Film damals heimlich gedreht und es damit sogar in die Kinos geschafft. Der Wirbel war jedoch so groß, dass ich eine Zeitlang nach Deutschland ging und mich hier versteckt habe. Die Leute in der Türkei haben diesen Film jedoch sehr gut aufgenommen, er wurde von der breiten Masse unterstützt, und – gut, man hat mich vor Gericht gestellt, aber es ist nichts passiert. Und allmählich haben sich die Menschen diesem Thema geöffnet … Natürlich haben wir in unserem Land furchtbare Zeiten hinter uns, aber Demokratie braucht auch eine Entwicklung.

Wie sind Sie eigentlich zum Filmemachen gekommen?
Ich habe erst in Istanbul Musik studiert, dann ab 1982 als Journalist für Politik und Wirtschaft gearbeitet, aber mich immer geärgert, dass in meinen Reportagen stets so viel gekürzt und bearbeitet werden musste. Weil mir schien, dass ich meine Freiheit nur beim Filmemachen finden werde, habe ich meine Karriere als Journalist und Fotograf aufgegeben und ab 1986 angefangen, Dokumentarfilme zu drehen.

Bücherschreiben war keine Option?
Für mich ist die Vielfalt des Kinos noch größer. Vor allem aber hätte mir das Schreiben in einem Land, wo die Leute sehr wenig lesen, keinen Spaß gemacht.

Haben Sie Familie?
Ja, und zwei Jungen, die auch beim Film arbeiten. Sie sind heute 19 und 26 Jahre alt. Übrigens bin ich selbst auch sehr früh verheiratet worden. Ich hatte mich schon mit 13 der Revolution angeschlossen und war die Hälfte meines 13. Lebensjahres immer mal wieder kurz im Gefängnis. Immer nur kurz, weil ich ja noch minderjährig war. Und dann war ich mit 19 noch mal drin. Da kam ich dann erst nach anderthalb Jahren raus – und deswegen hat man mich dann verheiratet. Man denkt ja bei uns: "Junge, 20 Jahre, Militärdienst, Heirat, dann kann ja nichts Dummes mehr passieren, weil er nun Verantwortung für die Familie hat." Aber ich hatte Glück, denn ich bin mit meiner Frau noch heute zusammen.

Und ist "Lal Gece" nun so geworden, wie Sie sich den Film vorgestellt haben?
Wenn ich alle meine Filme betrachte, ist das wohl das Beste, was ich gemacht und gewollt habe. In diesem Fall ist das Ergebnis mit meiner Vorstellung fast identisch.

Das Gespräch mit Reis Çelik führte Uta Beth

 

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