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Ausgabe 131-3/2012

Freiräume zum Nachdenken und zum Widerspruch

Zum Tod von Helmut Dziuba

(Hintergrund zum Film Es gibt nichts Berührenderes als Einfachheit)

Bei Lubitsch lieben wir den Touch, bei Hitchcock lernen wir die Bedeutung von Suspense und bei Truffaut entdecken wir die Träume vom Kino – all diese Regisseure haben einen wiedererkennbaren Stil. Im Bereich des Kinder- und Jugendfilms hatte auch Helmut Dziuba einen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt. "Das Kind ist der beste Schauspieler", davon war er überzeugt. Und wer seine Filme gesehen hat, wird die Kinder und Jugendlichen darin nicht vergessen können: Ein Mädchen an der Seite von Karl Marx, zwei Jungen, die einen alten Kahn wieder flottkriegen wollen, den Pionier-Anführer Mante, das Sinti-Mädchen Unku, das Heimkind Sabine Kleist, die Tochter eines Funktionärs, den Jungen Jan und Barbara, die sich in Georg verliebt. Helmut Dziuba ist tot. Im Alter von 79 Jahren ist er nach schwerer Krankheit am 19. April 2012 in Berlin verstorben.

Der Leserschaft der Kinder- und Jugendfilm-Korrespondenz ist er kein Unbekannter, die Jahrzehnte der Zeitschrift lesen sich wie eine Chronik seines Filmschaffens. Außerhalb der Kinderfilm-Szene gehört er zu den DEFA-Regisseuren, die nur wenige kennen. Selbst wenn sich Filmemacher wie Christian Petzold bei der Berlinale-Pressekonferenz zu seinem Film "Barbara" oder Andreas Dresen bei der Filmpreisverleihung voller Lob und Rührung an ihn erinnerten, konnte man nach seinem Tod vernehmen: "Dziuba – wer ist denn das?" Ähnlich war es nach der Wende, die Helmut Dziuba ironisch als "Kehre" bezeichnet hat, da fragten TV-Verantwortliche und Filmproduzenten dies auch. Mühevoll besorgte er sich damals Videoaufzeichnungen seiner Werke, trotzdem fand seine Filmarbeit bereits 1992 mit "Jana und Jan" ein jähes Ende. Für den Regisseur Dziuba gab es keine Arbeitsmöglichkeit mehr. Was so nicht ganz stimmt: Wenn er "nur" hätte arbeiten wollen, wäre das kein Problem gewesen: Serienfolgen von "Bergdoktor" bis "Forsthaus Falkenau" wurden ihm angeboten, doch er wollte etwas anderes, er wollte seine Art von Filmen fortsetzen, in denen die Geschichten aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen erzählt werden.

Der 1933 in Dresden geborene Helmut Dziuba erhielt ausgerechnet am geschichtsträchtigen 17. Juni 1953 das Angebot, an der Filmhochschule WGIK in Moskau zu studieren. Im achten Semester drehte er 1958 – mit Andrej Tarkowskij als Darsteller – seinen ersten Film "Aus der Asche", 1961 folgte sein Diplomfilm "Die Opfer". Die Rückkehr in die DDR bedeutete 1962 "alles auf Anfang" als Regieassistent bei Frank Beyer und Günter Reisch. Erst 1969 durfte er mit "Mohr und die Raben von London" seinen ersten eigenen DEFA-Film realisieren und bereitete den DDR-Verantwortlichen Kopfschmerzen, denn da saß der ehrwürdige Karl Marx in der Küche und schälte Zwiebeln. Marx als guter Onkel von nebenan, das ging fast zu weit. Also musste der "linientreue" Film "Laut und leise ist die Liebe" (1972) gemacht werden, den Dziuba später selbst als "Fehlleistung" bezeichnete. Mit "Der Untergang der Emma" (1974) fand er zum Kinderfilm zurück und schlug einen sehr eigenen Weg ein, der nur noch einmal mit dem IM-Stasi-Drama "Chiffriert an Chef – Ausfall Nr. 5" (1979) unterbrochen wurde.

Seine Filme sind nicht nur in Deutschland einmalig, konsequent setzte er auf den "jugendlichen Blick", sowohl bei seiner proletarischen Trilogie ("Rot-Schlipse", "Ede und Unku", "Jan auf der Zille") als auch für seine Gegenwarts-Trilogie ("Erscheinen Pflicht", "Verbotene Liebe", "Jana und Jan"). Zu seinem persönlichen Stil gehörte es vor allem, Bilder sprechen zu lassen. Angefangen hatte er damit bei seinem wohl bekanntesten Film "Sabine Kleist, sieben Jahre" (1982), einem besonders wortkargen Film, denn er wollte, dass Kinder und Jugendliche dazu erzogen werden, im besten Sinne des Wortes, zu hören, zu sehen und eigene Gedanken in die Bilder zu legen. Seine Filme boten Freiräume zum Nachdenken und zum Widerspruch, er wollte den Zuschauern nicht sagen, wie sie die Welt zu sehen haben. Solche ehrlichen Auseinandersetzungen mit den Lebensumständen in der DDR waren Repressionen ausgesetzt, so wurde "Erscheinen Pflicht" (1983) nur in geschlossenen, speziell genehmigten Veranstaltungen gezeigt, da er DDR-Staatschef Erich Honecker und seiner Frau ausdrücklich missfiel. Seine Gegenwartsfilme wurden im Osten und im Westen gleichermaßen als Filme gegen die DDR missverstanden, dabei waren es Filme für die DDR, für eine bessere DDR.

"Jana und Jan" (1992) blieb Dziubas einziger Nach-Wende-Film: Eine 17-Jährige, die in verschiedenen Werkhöfen der DDR – eine Mischung aus Erziehungsheim und Jugendstrafanstalt – aufgewachsen ist, wettet mit ihrer Freundin, dass sie den neuen Jungen im Werkhof verführen kann. Schon 1984 wollte Helmut Dziuba diese Geschichte realisieren, doch die Thematik – Kinder werden von ihren Eltern in Werkhöfe abgeschoben – hatte damals in der DDR keine Chancen. Auch im "neuen Deutschland" hatte Helmut Dziuba keine Möglichkeit mehr, weitere Filme zu drehen. Dafür brachte er von 1992 bis 2002 seine Erfahrungen als Berater bei der Filmauswahl für das Kinderfilmfest der Berlinale ein. Gemeinsam mit Bernd Sahling hat Dziuba das Drehbuch zu dem Kinderfilm "Die Blindgänger" (2004) geschrieben. 2011 vollendete er – wieder mit Bernd Sahling – das Drehbuch zu "Muscha". Die authentische Geschichte vom Überleben eines Sinto-Jungen im Zweiten Weltkrieg nach Motiven des gleichnamigen Romans von Anja Tuckermann war ein Lieblingsprojekt, mit dem er an seine proletarische Trilogie anknüpfen wollte. Als Zwölfjähriger hatte Helmut Dziuba am 13. Februar 1945 beim alliierten Luftangriff auf Dresden ein prägendes Erlebnis. Mit dem Jungzug wurde er in die Stadt gejagt: "Wie ich da rausgekommen bin? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe Tote gesehen, und nicht nur ein oder zwei. Ich habe auch einen Teil meiner Familie aus den Trümmern ausgraben müssen." Wenn die Aussage von Ingmar Bergman stimmt, dass jeder Film auch die Rückkehr in die Kindheit bedeutet, trifft dies besonders auf sein letztes Drehbuch zu. Helmut Dziuba bleibt eine singuläre Erscheinung in der deutschen Filmgeschichte.

Manfred Hobsch

 

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