Zum Inhalt springen

Ausgabe 68-4/1996

DIE LEGENDE VON PINOCCHIO

THE ADVENTURES OF PINOCCHIO

Produktion: Davis Films / Dieter Geissler Filmproduktion / Alta Vista / Bibo / Cine Vox / Pro Sieben; Großbritannien / Frankreich / Deutschland 1996 – Regie: Steve Barron – Buch: Sherry Mills, Steve Barron, Barry Berman, nach der Geschichte von Carlo Collodi – Kamera: Juan Ruiz Anchia – Schnitt: Sean Barton – Musik: Rachel Portman – Darsteller: Jonathan Taylor Thomas (Pinocchio), Martin Landau (Geppetto), Geneviève Bujold (Leona), Udo Kier (Lorenzini u. a. – Länge: 94 Min. – Farbe – FSK: o. A. – Verleih: Warner Bros. (35mm) – Altersempfehlung: ab 8 J.

Das eintönige Leben des verschrobenen alten Holzschnitzers und Puppenmachers Geppetto, der nur eine Katze und seine Marionetten in seinem kleinen Haus duldet, verändert sich schlagartig, als er aus einem abgelegenen Tal ein Stück Holz mitbringt, das mit magischem Wasser in Berührung gekommen ist. Als er daraus eine Marionette – einen kleinen Jungen – schnitzt, erwacht dieser alsbald zum Leben. Geppetto gibt seinem Sprössling den Namen Pinocchio. Als der zu sprechen beginnt und die Welt ringsum erkundet, gerät er schon bald in manche Schwierigkeiten. Da ist es gut, dass sein "Vater" den Holzbengel leicht "reparieren" kann. In der Schule zeigt sich rasch, dass Pinocchio ganz anders ist als die übrigen Schüler: Wenn er lügt, wächst seine Nase, und das bis zu fünf Meter. Als er bei einem Streich in einer Konditorei großen Schaden richtet, wird Geppetto verhaftet und vor Gericht gestellt. Da der arme Puppenschnitzer den Schaden nicht bezahlen kann, muss er ins Gefängnis, während Pinocchio in dem Puppentheater des habgierigen Lorenzini landet.

Inzwischen hat sich die altkluge Grille Pepe zu Pinocchio gesellt und versucht, diesen mit Ratschlägen auf den Weg des Guten zu führen. Doch der sonnt sich erst mal im Glanz seiner erfolgreichen Bühnenauftritte. Als Lorenzini von Pinocchio jedoch verlangt, zwei alte Marionetten von Geppetto zu verbrennen, weigert er sich und läuft weg. In einem Wald begegnet er einer Kutsche mit vielen Jungen, die auf dem Weg in den extravaganten Vergnügungspark Terra Magica sind. Dort verwandelt der böse Lorenzini die ahnungslosen Jungen jedoch in Esel, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Pinocchio durchschaut Lorenzinis Plan und warnt die Jungen. Allerdings müssen der kleine Spitzbub und Geppetto noch etliche Abenteuer bestehen, bis sie sich am Ende in die Arme fallen können.

56 Jahre nach der ersten Verfilmung der Erzählung von Carlo Goldoni – übrigens der zweite abendfüllende Zeichentrickfilm der Walt Disney Studios – hat sich ein internationales Produzententeam, darunter die Deutschen Dieter Geissler und Kurt Silberschneider, an eine weitere Adaption der berühmten Vorlage gemacht. 36 Millionen Dollar kostete die deutsch-englisch-französische Koproduktion. Das Besondere daran ist die aufwendige Kombination von Puppentrick- und Realaufnahmen. Während die Dreharbeiten "nur" zwölf Wochen dauerten, benötigten Trickbearbeitung und Endfertigung das Dreifache. Bei der digitalen Bildbearbeitung im CineMagic Animations Studio von Dieter Geissler in Babelsberg kam das hoch auflösende Computer-System Toccata zum Einsatz, das das Bad Homburger Unternehmen Bibo für das Trickspektakel "Taxandria" entwickelt hat.

Glanzstück der Pinocchio-Version des Regisseurs Steve Barron ist die Animatronics-Holzpuppe, die von Jim Henson's Creature Shop in London entwickelt und hergestellt wurde. Erstaunlich, wie sie Gefühle ausdrücken kann und dem Publikum so rasch ans Herz wächst! Aus Hensons Animationsschmiede stammen neben vielen anderen auch Figuren zu der "Unendlichen Geschichte III" und den "Flintstones". Für sein computergesteuertes Control System zur Steuerung der Puppen erhielt der Creature Shop 1992 den Technik-Oscar.

Im Zuge der Bemühungen, die jungen Zuschauer von heute mit der Märchengeschichte aus dem 19. Jahrhundert zu begeistern, ist Barron jedoch vor allem in der zweiten Hälfte des Films gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen. So wirkt die Sequenz mit ausgelassenen Jungen auf Geister- und Achterbahn in der Terra Magica geradezu wie ein Werbeclip für einen kommerziellen Vergnügungspark und ist überdies viel zu lang geworden. Auch die oft pompöse Musik entwickelt leider allzu oft großes Eigenleben, wenn sie sich mal wieder aufdringlich in den Vordergrund spielt und manche "Überraschung" vorzeitig verrät. An den erhobenen Zeigefinger früherer Verfilmungen erinnert stellenweise der altertümelnde Off-Märchenerzähler, der gelegentlich so triviale "Weisheiten" von sich gibt wie "Wunder werden nur im Herzen gemacht."

Origineller inszeniert ist dafür die überraschende Wiederbegegnung von Pinocchio und Geppetto, die beide von einem riesigen Seeungeheuer verschluckt wurden, in das sich der böse Lorenzini verwandelt hat. Wie einst Jonas im Walfisch verzweifelt auch Pinocchio nicht und rettet sich und seinen "Vater" mit Hilfe seiner langen Lügennase. Pluspunkte sammeln kann neben dem spanischen Kameramann Juan Ruiz Anchia, der die italienisch aussehende Szenerie in ein schönes warmes Licht taucht, vor allem die ausgezeichnete Besetzung, aus der neben dem Geppetto-Darsteller, dem Oscar-Preisträger Martin Landau, vor allem Udo Kier als Bösewicht Lorenzini hervorsticht. Kier, der durch Auftritte in Produktionen wie "Dracula" oder "Frankenstein" schon reichlich Erfahrung im Historien- und Kostümgenre gesammelt hat, wird im Presseheft mit den Worten zitiert: "Ich nehme an, dass ich für Kinder schon eine etwas Furcht einflößende Gestalt bin. Ich bin also wieder einmal ein kostümierter Bösewicht."

Als problematisch für die Identifikationsbereitschaft des weiblichen Publikums könnte sich die Entscheidung der Filmemacher erweisen, keine Mädchen mitspielen zu lassen. Erst ganz am Schluss wünscht sich der Mensch gewordene Pinocchio eine Freundin.

Reinhard Kleber

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 68-4/1996 - Interview - "Kinder lieben Fantasy-Elemente"

 

Permalink für Verlinkungen zu dieser Seite Dauerhafter, direkter Link zu diesem Beitrag


Ausgabe 68-4/1996

 

Filmbesprechungen

ALASKA| ANTON| GAME OVER| DER GANZE MOND| DER GLÖCKNER VON NOTRE DAME| GOOFY – DER FILM| KEITA – DE BOUCHE A OREILLE| LANG LEBE DIE KÖNIGIN| LE CRI DU COEUR| DIE LEGENDE VON PINOCCHIO| MARIAN| MINKA| NICHT GETRÄUMTE TRÄUME| NIE MEHR 13!| RIEKES WILDPFERD| SCHNEEWEISSCHEN UND ROSENROT| TRAINSPOTTING| DER VERZAUBERTE EINBRECHER| WILLKOMMEN IM PUPPENHAUS| ZAUBER|

Interviews

Barron, Steve - "Kinder lieben Fantasy-Elemente"| Boyle, Danny - "Zynismus ist ein Zeichen von Subkulturen"| Gubitosi, Claudio - "Ich möchte mit dem Festival die Welt von jungen Leuten vermitteln"| Zaritzki, Igor - "Es ging mir einfach um eine emotionale Geschichte"|

Hintergrundartikel

"Wiederentdeckung von Lotte Reiniger"|


KJK-Ausgabe 68/1996

 

Anzeigen:

Einzelne Ausgaben:

Filmtitel nach Alphabet:

Zusatzmaterialien:

Volltext-Suche:

 

 


Sonderausgaben bestellen!