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Ausgabe 53-1/1993

LEOLO

Produktion: Les Productions du Verseau / Flach Film / Le Studio Canal Plus / National Film Board of Canada, Kanada/Frankreich 1992 – Regie und Buch: Jean-Claude Lauzon – Kamera: Guy Dufaux – Schnitt: Michel Arcand – Musik: Richard Grégoire – Darsteller: Maxime Collin (Leolo), Ginette Reno (Mutter), Julien Guiomar (Großvater), Pierre Bourgault (Dompteur der Worte), Giuditta Del Vecchio (Bianca) u. a. – Länge: 110 Min. – Farbe – FSK: ab 16 – Verleih: prokino plus (35mm; DF und OmU)

Wenn man für den Kinder- und Jugendfilm bestimmte Formeln der Machart gelten lassen würde, dann gäbe es bestimmt auch diese: ultraharte Realität plus Vision. Und genau in dieser Kategorie würde der Franko-Kanadier Jean-Claude Lauzon mit seinem Film "Leolo" frappierend auffallen. Denn bei ihm erscheinen das Visionäre und die Schrecken des Alltags jeweils in völlig unverdünnter Konzentration. Die krassen Erlebnisse des 14-jährigen Leolo in seinem beengenden und kleinstbürgerlichen Elternhaus überhöht der Regisseur mit ungehemmter Phantasie. Lauzon wollte keinen Jugendfilm machen; sicher auch keinen Erwachsenen-Film. Der junge Filmemacher würde sicher jede Kategorisierung von sich weisen. Dieser Film kommt aus tiefster Seele.

Im Innersten glaubt Leolo, er sei das Kind von anderen Eltern, er stamme in Wahrheit aus Sizilien. Seine echte Familie verachtet er: Da ist die fette Mama in ihrer liebevoll-erstickenden Art, die die Sehnsüchte ihres jüngsten Sohnes nicht erkennen kann; der derb-grobschlächtige Vater, der glaubt, alles Glück läge in einer gut funktionierenden Verdauung. Jeden Morgen wird die Kloschüssel überprüft. Bei Versagen müssen die Abführtabletten her. Das verschwitzt-miefige Milieu in einer gammligen Gegend Montréals ist für Leolo Gift. Seine Schwestern vegetieren in schmerzlichem Dumpfsinn vor sich hin. Der Bruder versucht, sich in einem Body-Building-Wahn gegen die Gewalt der Straße zu wehren.

Eine tote, nach Verfall stinkende Welt umgibt Leolo. Doch in ihm erwacht das Leben. Er entdeckt seinen Körper, seine Lust, die er zu stillen sucht. Ein Stück rohe Leber in der Hose ist nur einer der Versuche, seine Wollust zu bändigen. Er verliebt sich in eine junge Italienerin aus der Nachbarwohnung, die – Schmach für Leolo – die Mätresse seines Großvaters ist. Nur durch die Türspalte ergattert der Junge etwas von der Schönheit der Angebeteten. Ein Ventil für seinen Drang nach Helligkeit, nach Luft, nach Leben ist das Schreiben. Worte sind stärker als das Leichentuch seiner Kindheit, das ihn zu begraben droht. Als Leolo das einzige Buch in der Wohnung entdeckt, beginnt er nachts heimlich beim Licht des offenen Kühlschranks zu lesen. Was er liest, schreit nach mehr. Leolo wird ein besessener Schreiber, der seine überbordenden Phantasien formuliert. Denn er weiß: "Ich träume, also bin ich nicht." Die Traumwelt löst seine wahre Existenz auf.

Lauzon, der ganz unverkennbar authentische Züge einer quälenden Kindheit in den unkonventionellen Film webt, zieht wie ein Gegengewicht zur Schwerkraft der Geschichte einen rauschenden Bilderbogen auf: Leolos Träume von Sizilien ("Italien ist zu schön, um nur den Italienern zu gehören"), vom Ausbruch aus der Enge packt Lauzon in surreale Bilder von feuriger Kraft – ein Kaleidoskop, in dem sich fiktive Szenen der unbegrenzten Weite und reale Szenen der Enge rasant abwechseln. Die Bilder schmerzen: Als sich der Bruder – mittlerweile muskelbepackt – wieder auf der Straße verprügeln lässt, erkennt Leolo, dass man uralte Angst nicht abwerfen kann. Wenn die erdachten blühenden Hänge Siziliens auftauchen, spürt man Leolos Pein. Als Leolo den Großvater – als Urheber dieser Familie – nicht mehr erträgt, gelingt es ihm fast, den alten Despoten am Flaschenzug zu erhängen.

Lauzon überflutet den Zuschauer mit einer Bilderschwemme, manchmal überfordert er auch: Sehr schnell fließen die verschiedenen Ebenen der Realität ineinander; die leicht esoterische Mystik mancher Traumsequenzen wirkt überdreht und schwer durchdringlich. Trotzdem ist "Leolo" ein außergewöhnlicher Film. Selten haben solche roh-derben Bilder neben so episch-balladesker Anmut gestanden. Ganz enorme Kraft zieht diese filmische Kindheitsbewältigung aus seiner Musik: Wie aus dem Bauch heraus hat Lauzon Rocksongs von Tom Waits und den Rolling Stones neben kirchliche Choräle gesetzt.

Am Schluss liegt Leolo in einer Anstalt in einem Becken mit Eiswürfeln: für diese Welt nicht mehr ansprechbar, ganz in sich lebend, in seiner Phantasie ertränkt – als sei die Flucht geglückt... Maxime Collin belebt die Figur des Leolo mit einer Wahrheit, als sei es seine eigene: ein zwischen Verletzlichkeit und Härte zerrissenes Wesen, das den Betrachter zwingt, in seine Welt einzutauchen, seine Gedanken – ob grausam oder sehnsüchtig – mitzutragen. So gelingt Lauzon und seinen Protagonisten ein selten mutiger Wurf über die Dramen des Kindseins. Lauzon enthüllt in diesem – nicht leicht zu ertragenden, rücksichtslosen – Werk seine der Kindheit zutiefst verwandte Seele. Und das ist selten.

Katja Nele Bode

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 54-1/1993 - Interview - "Ich weiß auch nicht, was das heißt, erwachsen zu werden"

 

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Ausgabe 53-1/1993

 

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