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Ausgabe 8-4/1981

"Die schwarze Henne"

Interview mit Victor Gres, dem Regisseur des preisgekrönten Films "Die schwarze Henne" beim Kinderfilmfestival Moskau 1981

(Interview zum Film DIE SCHWARZE HENNE)

Die Geschichte des Films basiert auf einer in der Sowjetunion sehr bekannten Erzählung von A. Pogorelsky, "Die schwarze Henne oder die Menschen im Untergrund". Ich kann nicht sagen, ob es an der technisch schlecht verstehbaren englischen Übersetzung oder an der verwirrenden Dramaturgie lag, dass ich zwar dem Fortgang der Handlung folgen konnte, aber den Sinn der Geschichte nur mit Hilfe eines Insiders sowjetischer, Verhältnisse verstanden habe. Die Handlung spielt im 18. Jahrhundert. Ein sehr sensibler sechsjähriger Junge wird von seinen strengen Eltern zu Erziehungs- und Lernzwecken in ein Internat gegeben. Er kann sich nur durch Phantasie und Träume, bei denen eine schwarze Henne eine entscheidende Rolle spielt, aus dieser Situation retten. Aber die schreckliche Wirklichkeit holt ihn immer wieder ein. Denn das, was er wirklich will, wird nicht Realität, dass seine Eltern ihn liebevoll und verständnisvoll zu sich nehmen und mit ihm leben. Mit diesem Traum endet der Film.

Auf heute bezogen, soll der Film eine Parabel auf sowjetische Eltern sein, die sie zum Nachdenken darüber anregt, ob sie ihren Kindern eigentlich genügend Verständnis, Liebe und Fürsorglichkeit entgegen bringen und ob sie ihnen die notwendige Sicherheit bieten. Konkreter: Das Problem wird immer offensichtlicher, dass die Kinder unter der Berufstätigkeit beider Eltern, unter der hohen Scheidungsrate und unter der außerhäuslichen Erziehung leiden. Dieser Film soll ein künstlerischer Ausdruck des Problems sein. Und damit richtet er sich eigentlich in erster Linie an Erwachsene, denn Kinder erhalten durch den Film keine Anstöße, um etwas zu ändern (Träume allein reichen nicht), vielleicht aber erhöht er das Problembewusstsein der Eltern.

Schon der erste Eindruck dieses Films, nicht weniger der kleine Darsteller der Hauptrolle, Vitali Sedletzkij, machten neugierig. Ausgangspunkt des Gesprächs mit dem Regisseur Victor Gres im Moskauer Hotel Rossia war die Frage, wie der Regisseur zu diesem reizenden blonden und blauäugigen Knaben kam. Seine Auskunft: Vitali wird am 28. Juli 1981 elf Jahre alt und besucht dann die fünfte Klasse, aber nicht in seiner Geburtsstadt Murmansk, wo er seine Kinderjahre verlebte, sondern in Kiew, wohin er mit seiner Schwester kam, die dort Musik studiert.

Victor Gres hatte bei der Absicht, diesen Film zu machen, immer eine ganz bestimmte Vorstellung von dieser Filmgestalt. Als er in der Aula der Schule eines Tages Vitali sah, wusste er, dass dieser Junge sein Filmdarsteller sein würde – trotz der Mängel, die er für diese Gestalt aufwies. Er schien ihm etwas zu klein, die blonden Haare waren zu kurz; es musste also einiges dazu kommen, um ganz der Vorstellung zu entsprechen. Gres nahm den Jungen in seine Familie auf, er ließ ihn ein halbes Jahr vor Beginn der Filmaufnahmen ganz in seinem Umkreis leben. Gres beschäftigte sich viel mit Vitali, sprach mit ihm über alle Probleme, über Eltern, Familienleben, um im Kind die richtige Gefühlswelt zu entwickeln. Vitali konnte mit seinen Kindern aufwachsen, spielen und leben. (Dabei wuchsen seine Haare zur gewünschten Länge, und er wurde etwas größer.)

Die Filmaufnahmen begannen im Herbst 1979 und wurden im Juli 1980 beendet. Vitali war während der Filmaufnahmen nicht von der Schule befreit, ein Pädagoge war bei den Aufnahmen immer dabei. Auf meine Frage, ob er viele Einstellungen öfters drehen musste, erklärte Gres, er arbeite im Film unter Bezugnahme auf die Schauspieler; gern arbeite er immer mit den gleichen Darstellern (soweit es geht), es werde kein Zwangmittel bei den Aufnahmen benützt. Vitali habe bei den Aufnahmen, wenn er weinen musste, wirklich geweint. Er doublierte nur manche Szene, sagte Gres, der in der Erklärung seiner Arbeitsweise an die von Ingmar Bergman erinnerte. Als ich diesen Namen nannte, war Gres sehr angetan von seiner Nähe zu Bergman.

In der Fortsetzung dieses Gespräches stellte Victor Gres seine Ansichten über den Stoff des Films und seine Idee dazu dar: Die Menschen von heute sind nicht mehr kommunikativ; es fehlt nicht nur in der Gemeinschaft, sondern schon in der Familie. Früher lebte man in drei Generationen zusammen – das war eine Lebensgemeinschaft – jetzt allein. Sein Film sei auch ein Film für Erwachsene und für Kinder, sie sollen ihn miteinander sehen. Die wichtigste Szene in diesem Film war ihm jene, bei der das Kind die Hände der Erwachsenen zusammenlegt, übereinander, auf die es dann seinen Kopf anschmiegt. Seine Einstellung zum Leben und zu den Kindern betont Gres sehr energisch: Jedes Kind gehört zu den Eltern, die Eltern müssen dem Kind Beispiel geben, denn es prägt sich im Kind ein, was es erfährt: Liebe, Mangel an Liebe. Im Gedächtnis des Kindes ist alles aufbewahrt.

Victor Gres ist am 29.6.39 in Krasny Ludsch im Donbecken geboren. Nach der Schule hat er einen zweijährigen Kurs für Theaterkunst besucht. Schon als Kind träumte er davon, Filme zu machen. Er kam ins Theaterinstitut, hat sich aber vorher schon künstlerisch betätigt. Zwei Jahre hat er am Theater gearbeitet, ein Jahr als Schauspieler, ein Jahr im Betrieb. Dann wurde er, 19 Jahre alt, zur Armee einberufen. Danach trat er ins Institut für Filmwesen ein und war außerdem journalistisch tätig. Seine verschiedenen Tätigkeiten in diesen Jahren schätzt er als gute Vorbereitung für die Filmarbeit ein.

Seine erste selbstständige Filmarbeit als Regisseur war ein vierteiliger Fernsehfilm mit dem Titel "Der blinde Regen" (wenn bei starkem Sonnenschein Regen fällt, wird dieser als "Blinder Regen" bezeichnet – so wird mir dieser Titel erklärt). Beim TV-Festival in Monte Carlo hat der Film den ersten Preis 'Die goldene Nymphe' bekommen. Danach machte Gres Kurzfilme, es folgte eine schöpferische Pause. In dieser Zeit hat er viel geschrieben, Drehbuchentwürfe und anderes. 1979/80 entstand sein erster Kinofilm "Die schwarz Henne", der beim Unionsfilmfestival in Wilnus gezeigt wurde, einen Monat vor dem Moskauer Filmfestival 1981.

Gres berichtet von seinen Erfahrungen bei der Filmarbeit und von seiner Einstellung überhaupt: In den Jahren des Schweigens hat er sehr viel nachgedacht; es scheine ihm sehr wichtig, dass einem das Leben nicht allzeit leicht gemacht werde. Dass es schwierige Jahre gibt, sei gut für jeden. (Was Gres unaufgefordert, aber angeregt durch dieses Interview von sich erzählt, macht den Eindruck, dass es Wunden in seinem Leben, in seiner Berufsarbeit gegeben hat, die seine Einstellung geformt haben.) Vieles davon tritt in seinem Film zutage. Bei seiner Filmarbeit denkt Gres nicht an die Oberfläche (er sagt: Außenhaut), was man innen fühlt, rege ihn an. "Die Sprache des Films ist nicht wichtig, die Gefühle sind wichtig. Der Sinn konstruiert sich aus dem inneren Antrieb heraus." Er ist Gegner jener Filme (er spricht dabei von Fairy Tales), in denen am Ende alles erklärt wird. Filme haben seiner Meinung nach wenig Verwandtschaft mit Literatur, mehr mit Musik. Wenn bei einem Konzert die letzte Note gespielt ist, muss die Melodie nachklingen. So möchte er den Filmschluss haben. Das Sujet muss auf jeden Fall einfach sein.

Auf die Frage, ob er sich für "Die schwarze Spinne" beim Festival in Moskau einen Preis erwartet habe, sagt er nach kurzem Nachdenken: Er habe sich eine Auszeichnung erhofft, aber nicht diesen hohen Preis. (Von der Kinderfilmjury der Erwachsenen den 'Goldenen Preis', von der Kinderjury den Preis für die beste Darstellung eines Kindes.)

Bei der Antwort auf die Frage, ob er mit Vitali weiter arbeiten werde, besinnt er sich nicht lange: "Wenn ich einen kleinen Schauspieler für den Kleinen Prinzen von Saint Exupery brauchte, würde ich ihn selbstverständlich nehmen. Dazu würde er gut passen. Aber sonst? Vitali hat keine besonderen schauspielerischen Fähigkeiten. Bei der Filmarbeit war er sehr ernst, wie ein Erwachsener hat er seine Aufgabe genommen."

(Dieses Gespräch fand während des Festivals in Moskau – in russischer Sprache – statt; irgendwelche Unrichtigkeiten wären durch die unmittelbare Übersetzung der Dolmetscherin bedingt.)

Das Gespräch führte Ferdinand Kastner.

 

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