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Ausgabe 19-3/1984

DAS EISMEER RUFT

Produktion: DEFA (Gruppe Babelsberg), DDR 1984 – Drehbuch: Petra Lataster-Czisch, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Alex Wedding – Regie: Jörg Foth Kamera: Wolfgang Braumann – Schnitt: Erika Lehmphul – Musik: Uwe Hilprecht -Darsteller: Oliver Karsitz (Anton), Alexander Rohde (Alex), Viviane Schmidt (Rosi), Thomas Gutzeit (Ferdi), Oliver Peuser (Rudi), Ilja Kriwoluzky (Peppi) – Laufzeit: ca. 85 Min. – Farbe und s/w

Ein Kinderbuch der unter dem Pseudonym Alex Wedding schreibenden Autorin Grete Weiskopf war bereits einmal Vorlage für eine DEFA-Kinderfilm-Produktion: "Ede und Unku" ("Als Unku Edes Freundin war", Regie: Helmut Dziuba, DDR 1980). In ihrem Buch "Das Eismeer ruft" (1944) schildert sie, nach authentischen historischen Berichten, den See-Notstand des sowjetischen Eisbrechers "Tscheljuskin" im arktischen Eismeer Mitte der 30er-Jahre und den Entschluss einer aufgeweckten Prager Kindergruppe, den Seeleuten zu Hilfe zu kommen. Der Erstlings-Film des jungen Regisseurs Jörg Foth hält sich, was die Handlung angeht, ziemlich genau an die literarische Vorlage.

Die Kinder Anton, Alex, Rosi, Ferdi, Rudi und Peppi, unterschiedlich im Alter (6-12), aber gleich gesinnt in ihrer Lust auf Abenteuer, werden zunächst in ihrer Umgebung gezeigt, im Arbeitermilieu einer Prager Vorstadtgasse. Einer von ihnen, Rudi, ist ein kleiner Erfinder und kennt sich in vielen technischen Tricks aus. So hat er sich ein einfaches Radio gebastelt, ein Detektorgerät, wie es viele Jungen auch in Deutschland noch in den 40er-Jahren benutzten. Mit diesem Apparat kann Rudi immer die neuesten Nachrichten empfangen, so zum Beispiel die Meldung, dass ein Amerikaner in einem Fass die Niagara-Fälle hinuntergesaust ist, was die Gruppe zum Anlass nimmt, ein ähnliches Experiment auf der abschüssigen Fahrbahn ihrer Straße zu unternehmen. Die große Sensation aber ist die Nachricht von der Havarie des Eisbrechers im Packeis. Die Kinder beschließen spontan, den Matrosen in ihrer kalten Not durch eine Expedition zu helfen. Sie besorgen sich warme Sachen, Proviant, einen Kompass und eine Weltkarte und machen sich auf den Weg nach Norden. An der Elbe bauen sie sich ein Floß aus Baumstämmen, mit dem sie das Meer erreichen wollen. Dabei müssen sie, wie sie gehört haben, durch Nazi-Deutschland, und das bereitet ihnen besonderes Kopfzerbrechen. Aber es kommt gar nicht so weit, dass sie mit Hitlers Errungenschaften in Berührung kommen. Natürlich scheitert ihr abenteuerliches Vorhaben, und mit unterschiedlichen Reaktionen ihrer Eltern werden sie zu Hause wieder in Empfang genommen.

Soweit die etwas naive Geschichte, wie sie im Buche steht und wie der Film sie nacherzählt. Was er allerdings an formalen Mitteln hinzufügt, ist bemerkenswert und interessant. Es werden nämlich, sozusagen mit den inneren Augen der Abenteuerkinder gesehen, Archivaufnahmen von der Schiffskatastrophe, die mit dem Untergang des Eisbrechers und den dramatischen Rettungsaktionen der Mannschaft endet, in die Filmerzählung eingeschnitten (natürlich schwarz-weiß und mit allen Materialschwächen alter Filmaufnahmen behaftet, dafür aber unheimlich echt wirkend). Diese Einschübe sind so geschickt montiert, dass der Fluss der Erzählung in seinem Rhythmus nicht gestört oder gar unterbrochen wird, im Gegenteil: Durch die akzentuierende Kombination zweier ganz, unterschiedlicher filmischer Stilelemente wird die Spannung erhöht, und es ergibt sich eine nur im Film mögliche narrative Qualität, die man in einem Kinderfilm bisher selten gesehen hat. Es bleibt freilich fragwürdig, ob man die alten Stummfilmteile nachträglich für den Spielfilm handfest vertonen musste (was einem Cineasten immer wie ein Sakrileg anmutet). Vielleicht mag es in einem Film für Kinder erlaubt sein, die ja mehr affektiv erleben als Erwachsene und denen die plötzliche Stille bei den Archivaufnahmen möglicherweise befremdlich und unlogisch vorgekommen wäre.

Herausgekommen ist alles in allem ein technisch gut gemachter munterer Film, dessen Botschaft aber wohl doch ein wenig überzogen heldenhaft gerät, dessen erzählerische Intention zu durchsichtig didaktisch erscheint. Die Kinder bei der Premiere im riesigen Kinopalast an der Prager Straße in Dresden gingen denn auch überwiegend gut mit, hatten aber bei der Rezeption der vermittelten (oder zu vermittelnden?) historischen und geografischen Fakten offensichtlich ihre Schwierigkeiten, so dass oft die anwesenden Eltern oder erwachsenen Begleiter erklärend eingreifen mussten. Zu idyllisch ist auch das Gemälde des Arbeiterlebens in Prag, das mit immer wiederkehrenden, selbstverliebten Kamera- und Kranfahrten gezeichnet wird. Die Ahnung der von der Naziherrschaft zu erwartenden Bedrohung der Tschechoslowakei wird in gar zu arabeskenhaften Randbemerkungen nur eingeflochten, ohne dass davon ein Schatten auf das fröhliche Vorstadttreiben fiele (wie man das zum Beispiel eindrucksvoll in dem BRD-Film "Die Kinder aus Nr. 67 oder Heil Hitler, ich hätt' gern'n paar Pferdeäppel" von Usch Barthelmeß-Weller und Werner Meyer beobachten konnte). Wenn es, wie vermutet, ein Ziel des Films war, neben dem unbestrittenen Unterhaltungswert den Kindern auch Ansätze eines eigenen Geschichtsbewusstseins zu vermitteln, so muss wohl festgestellt werden, dass dieses Ziel zugunsten vieler niedlicher oder unwahrscheinlicher Details zu halbherzig angegangen und letztlich verfehlt wurde. Geschichte bleibt mehr oder weniger Folie für einen Film, der – wie in sozialistischen Ländern häufig zu sehen – mit optimistischer Tendenz schon eine gute Absicht für eine gute Tat nimmt in der Hoffnung, dass die jungen Betrachter sich das gute Beispiel für den real existierenden Alltag zu Herzen nehmen.

Bernt Lindner

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 21-3/1985 - Interview - "Sie haben sich den Film ja ganz gut ausgedacht"
KJK 19-3/1984 - Kinder-Film-Kritik - Das Eismeer ruft

 

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