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Ausgabe 21-1/1985

ISABEL AUF DER TREPPE

Produktion: DEFA, Gruppe "Berlin", DDR 1984 – Drehbuch: Hannelore Unterberg, nach dem gleichnamigen Hörspiel von Waldtraut Lewin – Regie: Hannelore Unterberg – Dramaturgie: Anne Pfeuffer – Kamera: Eberhard Geick – Musik: Karl-Ernst Sasse, Julio Alegria – Darsteller: Irina Gallardo (Isabel), Mario Krüger (Philipp), Teresa Polle (Rosita Perez), Jenny Gröllmann (Margot Kunze) u. a.

Sechs Jahre wohnt Isabel Perez bereits mit ihrer Mutter in der DDR, in einer schönen Neubauwohnung. "Da sind Sie ja beinahe schon eine von uns", sagt Isabels Lehrerin zur Mutter ihrer zehnjährigen Schülerin, aber sie sagt das ohne Wärme, eher beiläufig, während sie mit ihrem schulischen Terminplan beschäftigt ist. Ebenso floskelhaft routiniert wirkt dann die Ankündigung vor dem Auftritt des Gastes durch die stellvertretende Direktorin: "Das ist Rosita Perez, eine Volkssängerin aus Chile, die froh ist, in unserem schönen Land leben zu können ..." Natürlich wäre sie glücklicher, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dort haben ihr einst Tausende zugehört. Bei den Kindern in der Ostberliner Schulaula findet Isabels Mutter ebenso wenig echte Aufmerksamkeit wie zuvor bei der Lehrerin. Als die Unruhe anhält, verlässt sie nach dem ersten Lied die Bühne.

Die Fremde bleibt fremd – trotz sozialer Sicherheit, die sie gewährt. Einmal erzählt Frau Perez ihrer Tochter, man habe ihr in der Kaufhalle keinen Blumenkohl verkaufen wollen. "Verstehen Sie kein Deutsch?", habe die Verkäuferin gesagt. "Mir war, als verstehe ich wirklich kein Deutsch." Und immer wieder mal passiert der Emigrantin, dass sie beim Öffnen des Briefkastens verbrannte Post vorfindet: ein unbedachter Dummer-Jungen-Streich, aber er trifft die Exilanten besonders hart – warten sie doch täglich auf ein Lebenszeichen von Isabels Vater, der in Chile zurückblieb, dort im Untergrund kämpft. Oft erwartet das Mädchen den Briefträger im Hausflur. "Eines Tages kommt er", mit einem Brief, dass mein Vater tot ist", sagt sie in düsterer Vorahnung, "wenn man hier sitzt, kann man ihn vielleicht aufhalten."

'Isabel auf der Treppe' nannte Waldtraut Lewin ihr Hörspiel, das sie für den DDR-Rundfunk schrieb. Hannelore Unterberg, eine der wenigen Regisseurinnen in Babelsberg, drehte nach dieser Vorlage bei der DEFA ihren dritten Kinderfilm. Aber die "Moral" dieser realistischen Alltagsbeobachtungen meint eigentlich mehr noch die Erwachsenen. Sie sind es, die zunächst einmal versagen in diesem Film, der den in der DDR viel strapazierten Begriff "Solidarität" an der Praxis misst.

Als Mutter und Tochter Perez in das Hochhaus einzogen, übernahm Familie Kunze die Patenschaft über die Emigranten. Aber nur noch Sohn Philipp, Isabels Altersgefährte, denkt daran, dass man sich um die beiden Nachbarn kümmern sollte. Unterstützung findet er beim Großvater, als dieser zu Besuch kommt, während die Mutter von der unbequemen Verpflichtung nichts mehr wissen möchte: "Die haben sich eingelebt, die brauchen uns nicht mehr." Zur Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit tritt eine gute Portion Spießertum: Als Philipp sich mit Isabel anfreundet und sie allein in der Wohnung besucht, findet die Mutter mit diskriminierenden Argumenten, das sei "nicht der rechte Umgang" für ihn. Was den Jungen protestieren lässt: "Bei euch soll'n alle sein, wie ihr sie euch vorstellt. Schon wenn die Chilenen ein bisschen laut feiern, regt ihr euch auf. Ihr zahlt euren Soli(daritäts-)Beitrag, und das ist alles!" Solch deutliche Worte charakterisieren typische Verhaltensweisen gegenüber Ausländern im eigenen Land, wie man sie in Deutschland-Ost und -West gleichermaßen findet. Was hier der kleine Hauptdarsteller eines DEFA-Spielfilms ausspricht, konnte man schon in einem Dokumentarfilm über kubanische Arbeiter, die in der DDR ausgebildet werden, hören ("Companero Inge" von Karlheinz Mund). Natürlich hat der Kinderfilm einen versöhnlichen Schluss: Als Isabels Mutter nach dem Eintreffen der gefürchteten Nachricht vom Tod ihres Mannes zusammengebrochen ist, wird das Mädchen in Philipps Familie liebevoll aufgenommen. Der kritische Blick, mit dem bis dahin aber auch unsolidarisches Verhalten ausgestellt wird, beweist einmal mehr, dass oft gerade Kinderfilme in der DDR näher an dortiger Realität sind als besonders in letzter Zeit Produktionen für Erwachsene.

Zur Wirklichkeitsnähe trägt sicher auch bei, dass die chilenischen Protagonisten eigene Erfahrungen in ihre Rollengestaltung einbringen konnten. Isabel, deren Gedanken im Film immer wieder auf die alte Heimat gerichtet sind – was assoziative Rückblenden bildhaft machen –, wird von der zehnjährigen Irina Gallardo dargestellt. Ihre Eltern waren vor der Flucht aus Chile unter Pinochet verfolgt und eingekerkert. Vor drei Jahren kam die Familie in die DDR, wo Irinas Vater – vor dem Putsch der Generäle ein bekannter Schauspieler und Regisseur – jetzt an der Babelsberger Filmhochschule arbeitet. Die Tochter hat erst während der Dreharbeiten richtig Deutsch gelernt. Ihre Film-Mutter, Teresa Polle, ist ebenfalls aus Chile emigriert und spielt seit mehr als drei Jahren am Berliner Ensemble, wo auch ihr Landsmann Carlos Medina als Regisseur engagiert ist. An anderen Bühnen der DDR fanden ebenfalls Chilenen eine neue künstlerische Heimat.

Von Exilerfahrungen chilenischer Landsleute handelt auch ein Stoff des gleichfalls in der DDR lebenden Omar Saavedra Santis, den Lothar Warneke zu verfilmen beabsichtigt. In der Bundesrepublik entstand mit "Aus der Ferne sehe ich dieses Land" Vergleichbares als Gemeinschaftsarbeit des Westberliner Regisseurs Christian Ziewer und des chilenischen Schriftstellers Antonio Skarmeta, der Probleme seiner Landsleute im Exil auch schon in Dokumentarfilmen behandelt hat.

Die Diskussionen um Asylanten bei uns zeigen, dass "Isabel auf der Treppe" nicht nur die DDR angeht. Verständnis für Ausländer unter Deutschen zu wecken, kann gerade eine Aufgabe des Kinderfilms sein. Dass dies auch in der DDR nötig ist, betonte Regisseurin Hannelore Unterberg: "Die Kinder bei uns wissen über die Ereignisse in Chile und auch über die Folgen für viele Menschen Bescheid. Sie lernen es in der Schule, sie lesen darüber in der Zeitung. Aber wie weit erreicht es sie denn wirklich? Zu leicht geht Wichtiges, in der Schule Behandeltes, zu einem Ohr rein, zum anderen heraus. Wir dürfen uns da nichts vormachen ... Ich meine, man kann nur etwas bewirken, wenn man ehrlich ist und die Dinge beim Namen nennt ... Unser Umgang mit Menschen, die eine andere Mentalität haben, andere Sitten und Gebräuche, die, wie man sagt, 'anders' sind, ist nicht immer sehr schön. Es wäre gut, wenn der Film auch darauf aufmerksam machte."

Heinz Kersten

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 127-1/2011 - Interview - "Hannelore wollte, dass ich die Isabel spiele, und nicht, dass ich die Isabel bin."
KJK 22-1/1985 - Interview - "Ich möchte die Kinder immer etwas ermuntern"

 

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Foth, Jörg - "Sie haben sich den Film ja ganz gut ausgedacht"|

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