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Ausgabe 45-1/1991

"Ein paar Gefühle borgen"

Gespräch mit Bille August

(Interview zum Film PELLE DER EROBERER)

Bille August, Oscar-Preisträger und Gewinner der Goldenen Palme von Cannes für "Pelle der Eroberer" stand im Mittelpunkt einer Hommage bei den Nordischen Filmtagen (November 1990), mit der das Werk des dänischen Regisseurs (Jahrgang 1948) gewürdigt wurde. Als Sohn eines Arztes in Kopenhagen geboren, studierte Bille August zunächst Architektur, in Stockholm und Kopenhagen wurde er als Fotograf und Kameramann ausgebildet, die Dänische Filmschule verließ er 1971 mit dem Diplom. In Schweden und Finnland stand er bei 15 Spielfilmen hinter der Kamera, bevor er seine ersten eigenen Filme machte. "Zappa, Twist and Shout" und "Busters Welt" ("Buster der Zauberer") entstanden nach Büchern des namhaften dänischen Romanciers und Drehbuchautors Bjarne Reuter. Neben diesen drei Filmen und der vielfach preisgekrönten Verfilmung des Romans von Martin Andersen Nexö, "Pelle der Eroberer", waren noch Bille Augusts Erstlingswerk "Flitterwochen" (1979) sowie zwei Produktionen für das dänische Fernsehen, "Die Welt ist gro, so groß" und "Maj", in der Filmreihe zu sehen.

Seit einigen Monaten ist Bille August nun mit seinem neuesten Projekt, "Der gute Wille", beschäftigt. Er ist der erste Regisseur, den Ingmar Bergman eines seiner eigenen Manuskripte verfilmen lässt. "Der gute Wille" handelt davon, wie Bergmans Vater und Mutter sich im Jahre 1909 kennen lernten und ineinander verliebten – und wie deren Eltern damals alles unternahmen, um dieser Liebesbeziehung ein Ende zu machen. "Der gute Wille" (deutscher Titel möglicherweise auch "Beste Absichten") entsteht als abendfüllender Spielfilm und gleichzeitig als vierteilige Fernsehserie, die auch bei uns laufen wird. Es ist die bisher teuerste aller skandinavischen Fernsehproduktionen.

KJK-Mitarbeiter Erhard Bultze sprach mit Bille August.

KJK: Als Sie in Ihrer Jugend ins Kino gingen, da wurden die Medien ganz anders genutzt als heute. Spielt dieses Bewusstsein von veränderten Sehgewohnheiten eigentlich eine Rolle, wenn Sie einen Film machen?
Bille August: "Klar, unsere Kinder werden von klein auf mit Bildern gefüttert, sehen Filme und Fernsehen ganz anders als wir damals. Aber da ich halt Spaß daran habe, Filme zu machen, muss ich mit dieser Realität leben und bewusst damit umgehen. Ein kleines bisschen beeinflusst das wohl auch meine Art, Filme zu machen: Es ist eine Herausforderung, man setzt sich selbst ganz anders unter Druck, weil die Konkurrenz so hart ist. Es würde mir übrigens keine Freude machen, einen sehr kunstvollen Film zu drehen, den sich dann kaum einer ansieht – und ich finde auch, es wäre das falsche Medium. Dann sollte man lieber etwas weniger Kostspieliges machen, Gedichte schreiben oder malen. Für mich ist Film eine der wenigen volkstümlichen Kunstarten, die noch übrig sind. Film hat eine Breitenwirkung, und sein Publikum ist kein besonders ausgesuchtes, kultiviertes Publikum, es ist das gleiche, das auch zu Fußballspielen und Sport geht, unkritisch – aber auch kritisch, vor allem aber spontan, und das ist auch gut so."

Eine Frage an Bille August als Filmemacher aus einem der kleinen Filmländer: Welche Chancen sehen Sie für den skandinavischen Film?
"Einen authentischen nationalen Charakter müssen sie haben, denn man kann keinen 'internationalen' Film machen, keinen internationalen Hit, auch nicht in der Welt der Musik. Schließlich sind gerade diejenigen dänischen Filme, die sich international gut behaupten konnten, sehr dänisch gewesen – 'Pelle der Eroberer' und auch die Karen-Blixen-Verfilmung 'Babettes Gastmahl', beide haben sie doch diesen dänischen Humor, sind geprägt von Wärme und Wehmut der Menschen im Norden – dem eigenen Ausdruck ihrer Kultur.
In kultureller Hinsicht fürchte ich allerdings ein bisschen, dass wir untergehen könnten zwischen den Großen, und ich habe auch Angst, dass wir in Europa eine neue Kultur erleben werden, die im Großen und Ganzen sein wird wie 'James Last spielt Klassik': eine komische Mischung aus Kultur und Pop und ich weiß nicht was. Da kommen mir solche Schreckensvisionen, und ein ganzes Stück weit glaube ich leider auch daran, dass sie zutreffen."

Sie haben selbst drei Kinder – dürfen die auch zum Film?
"Wenn sie Lust haben – aber nicht, wenn ich dabei Regie führe. Dann würde ich sie vielleicht zu sehr unter Druck setzen, und dieses Risiko würde ich nicht eingehen."

Mir ist aufgefallen, dass Sie häufig die kleinen Dinge zeigen und damit verweisen auf die großen Zusammenhänge.
"So habe ich selbst das noch gar nicht gesehen, aber – klar, Details – auf der visuellen und auch auf der psychologischen Ebene – sind mir wichtig; aber das hat vielleicht auch etwas mit meinem Perfektionismus zu tun. Wenn ich ein Manuskript schreibe, dann sehe ich halt immer Bilder vor mir, ich denke in Bildern, ich bin ja als Kameramann ausgebildet."

Könnten Sie denn eine Szene nennen, die Ihnen selbst gut gefällt und die 'typisch Bille August' zu sein scheint?
"In 'Pelle der Eroberer' gibt es eine Szene, in der der Vater dem Sohn ein Taschenmesser schenkt, über die ich mich selbst so sehr freuen kann, weil sie fast ohne Worte auskommt. Da wird sehr konzentriert erzählt, wie sehr der Vater seinen Sohn liebt, wie armselig sein Leben ist; und der Zuschauer sieht seine Vorfreude, dass sein Junge ein Geburtstagsgeschenk bekommen wird, wo er doch überhaupt nichts besitzt, kein Geld, gar nichts, und man versteht, wie er hat sparen müssen dafür und dass er selbst noch glücklicher über dieses kleine Taschenmesser ist als sein Junge und viel stolzer. Er hat es in seiner Hosentasche versteckt, und das Auspacken dauert dann ziemlich lange, weil es in so viele Lagen Papier eingepackt ist – eine schöne, sehr visuelle Szene, so finde ich, die auf ganz unsentimentale Weise direkt ins Herz geht.
Die Kunst besteht eigentlich immer darin, so finde ich, den einfachsten Weg zum Ziel zu finden. In meinem Erzählstil suche ich also stets eine Einfachheit, Schlichtheit, da bin ich nicht besonders avantgardistisch: Ich erzähle sehr direkt, sehr einfach."

Bille August, mit Filmen über Kinder und Jugendliche haben Sie sich einen Namen gemacht – geschah das eher zufällig, oder verstehen Sie sich als Kinder- und Jugendfilm-Regisseur?
"Das ist Zufall: Nachdem ich meinen ersten Film 'Honingmåne' gemacht hatte, in dem es überhaupt nicht um Kinder ging, rief mich ein Produzent an und fragte, ob ich 'Zappa' machen wollte. Da kannte ich das Buch (des dänischen Jugendbuchautors Bjarne Reuter; Die Red.) noch gar nicht. Als ich es dann las, war ich davon sehr fasziniert. – Und auch die anderen Filme, die ich dann mit Kindern gemacht habe, entstanden eigentlich eher, weil ich dazu aufgefordert wurde – und nicht so sehr, weil mich gerade die Jugendproblematik besonders interessiert hätte. Was mich aber immer interessiert hat und wovon, so könnte man sagen, auch alle meine Filme handeln, das sind betroffene Menschen, die ihrem Schicksal ausgeliefert sind, wie es die Kinder ja nun mal schon per Definition sind. Mich interessiert der Mensch in seiner Ursprünglichkeit weit mehr als der raffinierte, der parfümierte Mensch, und wenn man zum Eigentlichen, Ursprünglichen vordringen will, dann muss man, so glaube ich, zurück zur Einfachheit – zur Einsamkeit, zu diesem einsamen, seinem Schicksal ausgelieferten, betroffenen Menschen."

Stellt die Arbeit mit Kinderdarstellern besondere Anforderungen an den Regisseur?
"Ich glaube, eigentlich sind alle Kinder gute Schauspieler, denn das gehört ja zur Kindheit: sich etwas vorzustellen, sich zu verstellen – Kinder lieben es, sich zu verkleiden, etwas anderes zu sein. Dabei gelingt es manchen Kindern leichter als anderen, auch in bestimmten Stress-Situationen in diesem Spiel zu bleiben, an der Illusion festzuhalten, und das sind dann die Kinder, die man beim Filmemachen brauchen kann. Es erfordert eine natürliche Konzentration; das Kind muss sehr harmonisch sein und so sehr in sich selbst ruhen, dass es damit zurechtkommt, sich 8 Stunden lang ruhig verhalten zu müssen, ohne besonders bestärkt zu werden, und ohne, dass es zwischendurch spielen gehen muss – sondern, dass man stattdessen diese Illusion, diese Phantasie mit ihm ausleben kann.
Und das braucht schrecklich viel Zeit, bis man so ein geeignetes Kind gefunden hat. Und dann ist es auch sehr wichtig für mich, dass man es hinterher in gutem Zustand wieder abliefern kann: um ein paar Erlebnisse bereichert und mit ein bisschen mehr Taschengeld, doch so, dass es mich anschließend nicht vermisst. Die Kinder, mit denen wir gedreht haben, von denen weiß ich, dass sie mit einem solchen Prozess zurechtkommen können."

Und was erfordert es während der Dreharbeiten vom Regisseur?
"Das ist schon eine lange Reise, auf die man sich da mit dem Kind begibt, aber eine besonders raffinierte psychologische Methode habe ich nicht, ich führe sie nicht soweit weg, dass sie nicht wieder nach Hause finden können, ich peinige und plage sie nicht, sie werden nicht schizophren davon. In der Regel finden sie denn auch, dass es phantastisch viel Spaß macht, mitzuspielen, genau wie es auch den Erwachsenen Spaß bringt, zu spielen, andere Seiten von sich zu entdecken – sie leihen sich etwas aus ihrem privaten Leben, aus ihrer Phantasie, aus dem kleinen Erfahrungsschatz, den sie schon haben. Meine Aufgabe besteht darin, darauf zu achten, dass sie sich wohl fühlen, dass sie ihr Bestes geben, und zwar genau dann, wenn die Kamera läuft, wenn um 7 Uhr 35 die Sonne aufgeht und das Licht am besten ist.
Bei den Dreharbeiten zu 'Pelle der Eroberer' ging es vor allem darum, so denke ich, mit dem Kinderdarsteller Pelle Hvenegaard und einem Profi wie Max von Sydow einen gemeinsamen Nenner zu finden, so dass sie beide überzeugend wirken: Dem Kind fehlt das technische Handwerkszeug für seine Rolle und das dramatische Ausdrucksvermögen – doch dafür kann man sich bei ihm ein paar Gefühle borgen, für einige Minuten oder ein paar Stunden, sehr spontan, impulsiv und von kurzer Dauer, während ein Berufsschauspieler wie Max von Sydow eine ganz andere Arbeitsweise hat. Bei einer solchen Kombination wirkt dann oft der Amateur – oder ein Kind – phantastisch glaubwürdig, der Profischauspieler aber schlecht und theatralisch, und deshalb war es vielleicht meine wichtigste Aufgabe, darauf zu achten, dass die beiden zum gleichen echten Ausdruck fanden, und das war manchmal unglaublich schwierig und hat viele Stunden in Anspruch genommen. – Als wir mit Pelle Hvenegaard drehten, war er 12 Jahre alt und noch nicht in der Pubertät. Nachdem wir mit dem Film fertig waren, kam er dann in die Pubertät und war auf einmal erstaunlich schüchtern, ein ganz anderer Mensch, und ich bin mir nicht sicher, ob er heute noch immer gut wäre vor der Kamera."

Das Gespräch führte Erhard Bultze

 

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