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Ausgabe 58-2/1994

BIS MORGEN, MARIO

ATÉ AMANHA, MÁRIO / I MORGON MARIO

Produktion: Torromfilm, Portugal / Schweden 1992/93 – Regie: Solveig Nordlund – Drehbuch: Solveig Nordlund, Tommy Karlmark – Kamera: Lisa Hagstrand – Schnitt: Solveig Nordlund – Darsteller: Joao Silva, Vitor Norte, Paulo César Barros, José Cândido Abreu u. a. – Laufzeit: 76 Min. – Farbe – Weltvertrieb: UNIPORTUGAL, Av. Duque de Loulé, 79 r/c, P-1100 Lisboa – Altersempfehlung: ab 8 J.

Ein Tag im Leben des achtjährigen Mario, der in einem abgelegenen Fischerdorf auf der Insel Madeira lebt, die hierzulande bestenfalls als Urlaubsziel bekannt ist. Sein Vater ist schon lange tot, und zurzeit muss Mario die Familie (also seine zwei kleinen Schwestern) allein versorgen, denn die Mutter liegt im Krankenhaus. Doch Geld gibt's für Mario und andere Kinder wie ihn nur dort, wo's auch Touristen gibt, die man anbetteln oder auch schon mal betrügen kann. Also macht sich der Kleine in aller Herrgottsfrüh auf in die Inselhauptstadt, wo er gemeinsam mit seinen Freunden auf und von der Straße lebt und auf seine Weise versucht, vom Massentourismus einen Teil abzubekommen. Ein hartes Leben: Sie tauchen im Hafenwasser nach von Touristen geworfenen Münzen, stehen Modell für Fotos und manche von ihnen prostituieren sich auch. Doch das ist nichts für Mario, der zwar sonst schon viel zu erwachsen agiert (schließlich ist er zu früh erwachsen geworden), hier aber eindeutige Grenzen zieht. Das Träumen hat der Junge trotzdem noch nicht verlernt. Und so träumt er immer noch von den alten Bräuchen des Walfangs, von denen ihm sein Freund, der Fischer Carlos, auf der Autofahrt erzählt: Einst ernährte der Walfang die ganze Insel, aber seit dem Verbot und dem Niedergang der Fischerei ist außer Arbeitsplätzen in der Tourismusindustrie nichts zu holen für die Inselbewohner. Die Plackerei eines harten Tages hat sich am Ende doch – zumindest ein wenig – ausgezahlt: Mario kann seiner Mutter ein kleines Geschenk kaufen, das ihr den Aufenthalt leichter macht.

Ein Film über die andere Seite des Massentourismus in ärmere Regionen: Episoden aus dem Leben eines Jungen, der (fast) keine Kindheit hat, weil er auf der falschen Seite der Welt geboren wurde. Und die beginnt schon an den südlichen Rändern Europas. Die Filmemacherin, die selbst lange Zeit auf Madeira lebte, schildert hier engagiert und parteiisch, mit welcher Energie diese Kinder sich ihren Teil vom Leben erobern und wie hart manche von ihnen dafür kämpfen müssen. Bei alledem kommt der Film nicht larmoyant, sondern mit fast wütendem Selbstbewusstsein daher. Eine Kraft, die er wohl auch und vor allem aus dem intensiven und berührenden Spiel der Kinder-Laien-Darsteller bezieht, die hier ungeschminkt ihre eigene Geschichte erzählen. Wir sehen diese vom Tourismus geprägte Welt mit den Augen des Jungen. Natürlich kommen dabei die Touristen nicht immer allzu gut weg, aber seien wir ehrlich: Wir haben uns auch schon oft über alle jene amüsiert, die sich da gruppenweise die Welt zeigen lassen. Der Film wirft auch so manches Schlaglicht auf die zwangsläufig negativen Begleiterscheinungen des unbegrenzten Massentourismus. Denn während hierzulande rechte Demagogen allzeit von der Überfremdung deutscher Kultur faseln, tragen wir selber eifrig dazu bei, andernorts gewachsene Kulturen zu zerstören. Speisekarten, die Einheimische noch nicht mal lesen können, weil sie gar nicht erst in ihrer Sprache gedruckt wurden, sind da noch ein eher harmloses Anzeichen. Kinderprostitution und Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten gehören aber auch dazu. In Madeira ist es jedoch wie vielerorts: Das Alte existiert in Nischen neben dem Neuen und führt dort einen hartnäckigen Überlebenskampf.

Die episodische Struktur des Films hilft dabei, so manche Härten zu dämpfen, ohne dabei der Kritik etwas von ihrer Schärfe zu nehmen. Denn schließlich soll das immer auch unterhaltsames Kinderkino sein, ein Anspruch, den der Film jederzeit einlöst. Mit dem Darsteller des Mario fand Solveig Nordlund einen vorzüglichen Schauspieler, dessen optimistische Kraft und Selbstvertrauen uns auch die eher düsteren Momente leichter ertragen lässt. Versehen mit einer leitmotivischen Musik entstand so ein ungeschminktes Bild einer Kindheit am Rande Europas.

Lutz Gräfe

 

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Ausgabe 58-2/1994

 

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