Produktion: Claussen + Wöbke Filmproduktion; Deutschland 1998 – Regie: Hans-Christian Schmid – Buch: Hans-Christian Schmid, Michael Gutmann – Kamera: Klaus Eichhammer – Schnitt: Hansjörg Weißbrich – Musik: Norbert Jürgen Schneider u. a. – Darsteller: August Diehl (Karl Koch), Fabian Busch (David), Dieter Landuris (Pepe), Jan-Gregor Kremp (Lupo) u. a. – Länge: 99 Min. – Farbe – Verleih: Buena Vista (35mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.
Nichts ist so, wie es scheint – dieser Suspense-Slogan passt nahtlos auf jeden Hitchcock-Film oder einen Politthriller. "23" lässt sich weder in die eine noch die andere Kategorie einordnen, hat von beiden etwas und noch vieles mehr, was Schmid erneut als originellen Filmemacher mit eigener Handschrift ausweist. Genre-Schubladen sind nicht seine Sache. Ihn interessiert die Komplexität von Geschichten und Personen. Schon "Nach fünf im Urwald" ist nicht einfach bloß eine Komödie, weil auch eine ganze Portion Tragik rund ums Erwachsenwerden und Jungbleiben immanent ist. Schmids 1992 mehrfach preisgekrönter Hochschulabschluss, der Dokumentarfilm "Die Mechanik des Wunders", zeigt ebenfalls die Vielseitigkeit in der Betrachtung der Wirklichkeit, in diesem Fall die des Pilgerbetriebs im bayerischen Altötting, wo Schmid geboren wurde und aufwuchs. Dem Thema Religion und deren Einfluss auf Kinder widmete er sich danach in "Himmel und Hölle" vor dem realen Hintergrund der "Engelswerk"-Sekte.
Vom Erwachsenwerden und den Konflikten mit der Familie und der Gesellschaft, in der er lebt, handelt auch die Geschichte von Karl Koch in "23". Karl ist Atomkraftgegner und Idealist und in ständigem Streit mit seinem autoritären Vater. Für Karl ist die Welt in höchster Unordnung, und auf der Suche nach den Hintergründen von Verlogenheit und politischen Mechanismen stößt er auf die ihn faszinierende Verschwörungstheorie der Illuminaten und eifert dem fiktiven Rebellen des Kultromans "Illuminatus!" nach. Karls Misstrauen, seine Verunsicherung und seine Sinnfragen sind atmosphärisch so genau und spannend inszeniert, dass man wie mit einem Sog hineingezogen wird und sich selbst bei den gleichen berechtigten Zweifeln am Zustand der Welt ertappt. Schließlich stürzt einen die Zahlenmagie der 23 in angenehm heftige Irritationen. Schmids Story ist aufregendes sinnliches Kino in suggestiven Bildern. Computer spielen eine entscheidende Rolle, denn Karl vergräbt sich in die digitale Welt der Elektronik und entwickelt schon bald ein außergewöhnliches Hackertalent, mit dem er die Passwörter und Geheimcodes amerikanischer Rechner von großen Industrieunternehmen knackt. Ein Freund, den er im Computerclub kennen gelernt hat und der ansatzweise Karls Faible für die Geheimbundtheorie teilt, ist sein verlässlicher Mit-Hacker. Doch Karl hat sich bald nicht nur in die Welt der virtuellen Fakten, sondern auch in die der Drogen zurückgezogen. Mehr und mehr verliert er den Bezug zur Realität, in die sein Computerfreund ihn immer wieder zurückzuholen versucht.
Der Film ist nie zynisch, er zeigt allenfalls nur, wohin Zynismus führt. Und er hat einen fabelhaften Hauptdarsteller, August Diehl, mit einer im deutschen Film ganz seltenen physischen und intellektuellen Präsenz. Fabian Busch, der den Freund spielt, ist eine zweite beeindruckend gute Entdeckung des Films. In einer mehr und mehr medienbeherrschten Gesellschaft ist "23" ein wunderbar menschlicher Film, der im Grunde von uns allen handelt. Von echten Menschen, die nicht eindimensional funktionieren, sondern vielschichtig und unberechenbar. Und davon, dass die Zeit für Idealismus vorbei sein wird, wenn wir nicht aufpassen.
Frauke Hanck
Zu diesem Film siehe auch:
KJK 78-2/1999 - Interview - Eine Hauptfigur, die leidenschaftlich ein bestimmtes Ziel verfolgt
Filmbesprechungen
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