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Ausgabe 8-4/1981

INSEL DER KINDER

BARNENS Ö

Produktion: Svenska Filminstitutet, Treklövern HS – Drehbuch: Kay Pollak, Ola Olsson, Carl-Johan Seth, nach der Novelle 'Barnens Ö' von P. C. Jersild – Regie: Kay Pollak – Kamera: Roland Sterner, Lennart Peters, Thomas Wahlberg – Darsteller: Tomas Fryk (Reine), Anita Ekström (seine Mutter), Ingvar Hirdwall (Stig, ihr Freund), Hjördis Petterson (Olga), Helene Svedberg (Nora) u. a. – 35mm-Verleih: AG Kino, Von-Melle-Park 17, 2000 Hamburg 13, T. 040/418830

Nach der Novelle 'Barnens Ö' von P. C. Jersild schildert Kay Pollak "die letzten Tage der Kindheit" von Reine Larssen, einem elfjährigen Jungen aus einer Stockholmer Satellitenstadt, der täglich sein Geschlechtsteil auf die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale prüft und mit seinem Skateboard sowie einem Kassettenrecorder, dem er alles anvertraut, durch die Stadt streunt, wobei er in zahlreiche Begegnungen mit Erwachsenen verwickelt wird; dabei wehrt er sich gegen das Erwachsenwerden: "Es gibt so viele Fragen, dass er die Antworten finden muss, bevor der Sex seinen Geist trübt. ... An dem Tag, wo dich die Geilheit packt, bist du erledigt. Dann vergeudest du deine ganze Energie auf Sex und es ist aus mit dem klaren Denken. Mit elf Jahren steht man am Rand des Unglücks ..." (Pressematerial)

Reine trickst seine Mutter aus, indem er seine Sommerferien nicht auf der "Insel der Kinder", einem Ferienlager verbringt, sondern heimlich allein in der Wohnung zurückbleibt, in die er mit einem Schwindel erregenden Klettermanöver über das Dach des Hauses nach seinen Erlebnissen auch immer wieder wie in einen Uterus zurückkehrt. So sind die Situationen, in denen wir ihn verfolgen, "Grenzsituationen auf der Suche nach seiner Identität" (FAZ, 19.2.81): Ihn beschäftigen Zweifel an der Existenz Gottes und der Wunsch, als erster Drei-Minuten-Taucher ins 'Buch der Rekorde' einzugehen, Fragen nach seinem Vater und die Eifersucht auf den Freund seiner Mutter. In Begegnungen mit vier Frauen erleben wir ihn auf der Suche nach Geborgenheit, Zuwendung und Liebe und sehen, wie er durch die Konfrontation mit deren Männern und männlichem Gebaren überhaupt "Beziehungslosigkeit, Gefühlskälte (und) Anonymität auf dem Hintergrund einer technisch perfekten Gesellschaft" (Petrusblatt, 20.2.81) erfährt. So bleibt ihm nach all den Wünschen, Träumen und vergeblichen Hoffnungen, den Versagungen, der Resignation und den Regressionen nur noch der stoische Eintritt in die Erwachsenenwelt: "Aus. Sense. Er grüßt Reine Larssen. Demnächst zwölf Jahre alt."

Kinderfilme und Filme über Kinder

Es ist Pollak gelungen, einen Film über ein Kind bzw. über Kindheit zu drehen, ohne dass daraus ein Kinderfilm geworden ist. Der Kinderfilm als Film für Kinder ist in der Regel – selbst wenn Kinder Gegenstand des Films sind – kein Film über Kinder. So lief denn "Insel der Kinder" auf der Berlinale 1981 völlig zu Recht nicht im Programm des sog. Kinderfilmfests. Das heißt nun nicht, dass Pollaks Film kein Film für Kinder wäre; also doch ein Kinderfilm?

Wenn man "Insel der Kinder" mit den Produktionen vergleicht, die unter der Rubrik Kinderfilm laufen, dann wird sehr schnell deutlich, warum Pollaks Film kein Kinderfilm ist (in dem Sinne, wie Kinderfilm dort verstanden wird):

1.) Pollak handelt von der Realität. Also kein Märchen, keine Gespenster- oder Hausgeistergeschichte, Tierschnulze oder fantastische Story à la Disney & Co. Filme dieser Art sind so penetrant peinlich weniger deswegen, weil unterstellt wird, Kinder wollten so einen Schmarrn wirklich sehen (wobei man stillschweigend davon ausgeht, die wahren Bedürfnisse der Kinder zu befriedigen), sondern vor allem darum, weil sie die Funktion von fantastischen Figuren, Tieren und dergleichen im Bewusstsein der Kinder nicht reflektieren. Wofür diese "Geschichten" eigentlich stehen, bleibt völlig offen.

2.) Pollak handelt von der Realität – nicht als Anlass, Kulisse etc. für einen Film für Kinder, wie z. B. "Die Bande von nebenan" ("De bende van hiernaast) von Karst van der Meulen, der auf dem Kinderfilmfest lief. Filme dieser Art sind für Kinder nett und lustig – weniger deswegen, weil sie sogar etwas mit ihnen zu tun haben, sondern vor allem darum, weil dort Sachen geschehen, die sie sich auch immer schon erlauben wollten, bislang aber nur zu träumen wagten.

3.) Pollak handelt von der Realität als der Realität der Kinder. Filme dieser Art sind selten; mir fällt "Taschengeld" ("L'argent de poche") von François Truffaut ein (Truffaut gehört zu den wenigen, die Kinder im Film als Kinder darstellen und nicht als bequem zu verwendendes und verwertendes Objekt für Projektionen von Erwachsenen – was er in "Wolfsjunge" ("L'enfant sauvage" reflektierte) und "Nordsee ist Mordsee" von Hark Bohm ein. Filme dieser Art sind der Versuch, Kindheit als Produkt von Vergesellschaftungsprozessen darzustellen – was eine Entideologisierung bzw. -mythologisierung der Kindheit voraussetzt: Kindheit ist nicht jener paradiesische Zustand, dessen Vertreibung die Pubertät einläutet, und kann auch nicht in moralischer Manier als Unschuld oder kindliche Reinheit beschrieben werden.

Kindheit als Insel

Was man für Reine ausgedacht hat, nämlich die "Insel der Kinder", ist für ihn sozusagen eine Nummer zu klein. Folglich handelt der Film von einer ganz anderen "Insel".

Reine hat ein ambivalentes Verhältnis zu seiner Mutter: Er hasst sie, weil sie ihn nicht wirklich liebt, aber er liebt sie doch auch, weil sie ihn immerhin etwas liebt. Diese Ambivalenz Erwachsenen gegenüber spiegelt aber nicht nur das Selbstständigkeit signalisierende Hintergehen seiner Mutter einerseits (Rache, wenn man so will) und die Regression produzierenden Folgen dieser ersten Schritte ohne ihre Obhut andererseits (wo er in gleichsam embryonaler Stellung "Mama" weint – Reue). Nicht nur Sequenzen in sich deuten diese Ambivalenz an (weil jede Selbstbehauptung auch immer eine Niederlage ist), sondern sie zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film: Jeder Erwachsene ist, jeweils mehr oder weniger, vage Hoffnung und schlechtes Vorbild zugleich. Selbst die negativ besetzte Figur des Freundes (Stig) der Mutter zeigt menschliche Züge— wenn auch erst in der Ohnmacht, die er durch Alkohol und Liebe erfährt.

Doch muss man geschlechtsspezifisch differenzieren, will man diese Ambivalenz Erwachsenen gegenüber genauer verstehen: Es fällt auf, dass Reines Begegnungen mit Frauen anders verlaufen als die mit Männern.

Die Frau im Rollstuhl im Atelier für Kranzschleifen liebt diesen Jungen – aber sie ist gelähmt. Die "Fellini"-Figur vom politischen Wanderzirkus übt auf Reine eine offensichtlich sexuelle Anziehungskraft aus, aber als sie im Kreis ihrer Freunde steht und man sich über seine geschnittenen Haare lustig macht, ist es mit aller Erotik vorbei: Wütend, gekränkt und enttäuscht fährt er mit seinem Fahrrad davon. Von Nora, der Dekorateurin auf dem Segelboot des Vorstadt-Casanovas versteht er durch Vortäuschung eines Unfalls sogar einige Küsse zu ergattern und in der Folge dieses Ereignisses nicht nur ihr Ohr, sondern auch ihre Zuwendung zu gewinnen; aber als ihr Freund auftaucht, will sie Reine doch lieber wieder los werden. Schlechter geht es ihm mit der Rockerbraut, die ihn gleich brüsk von sich weist und ihn später sogar aus dem Auto wirft, um sich von ihrem Typ gebrauchen zu lassen – um danach als ein nicht minder kleines Häufchen Elend aus dem Wagen zu stolpern.

All diese Frauen sind für Reine verführerisch, einige sogar verführend – was in gewisser Weise auch umgekehrt gilt. Es bleibt jedoch allemal eros interruptus, weil die Frauen angesichts des verinnerlichten Besitzanspruchs ihrer Männer von der "Verführung" absehen – wobei die gelähmte Frau diejenige Lähmung symbolisiert, die alle angesichts des Mythos von der Asexualität des Kindes befällt (im Handeln wie im Denken). Und wenn über Reines geschnittene Haare gelacht wird, dann bezieht er das auf die Erektion seines Gliedes. Was also zu einem Wandel seines Bewusstseins dahingehend hätte führen können, dass er der bislang den Nonsens von der kindlichen Unschuld geglaubt hat und durch die Erfahrung jetzt eines Besseren belehrt – zu der Erkenntnis kommt, dass er einer Lüge aufgesessen ist, wird durch die kastrierende Wirkung (die abgeschnittenen Haare symbolisieren die ewige Kastration) patriarchalisch strukturierter Beziehungen systematisch verhindert: Man(n) verbietet via Besitzanspruch auf Frau dieser, ihre Sexualität anders zu äußern als in Bezug auf ihn, womit alles angelegt ist, sich aufs Neue via Identifikation mit dem Aggressor – wie gehabt (Wiederholungszwang) – zu entwickeln. Konsequent deutet denn auch der Schluss des Films Reines trotzige Übernahme der von ihm so gehassten männlichen Identität an, wenn wir ihn besoffen mackerhafte Reden schwingen hören.

Dass ihm zu Männern überhaupt keine Beziehungen glücken, ist nicht verwunderlich: Sie sind so, wie sie in der Regel vorkommen, nicht attraktiv. Sie kastrieren ja nicht nur ihre Frauen in Bezug auf den Umgang mit anderen Personen, sondern auch sich selbst, wenn sie ihre Sexualität auf ihre Frau reduzieren. So sind sie für Reine weiter entfernt als Frauen. Es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass er angesichts seiner "Vorbilder" aus der Erwachsenenwelt regelmäßig regrediert, nach Mama weint, sich wie ein Embryo in den Uterus Kinderzimmer oder Kinderbett samt Schlaftieren zurückzieht. Damit erreicht er denjenigen Zustand, den Erwachsene gern als natürliches Sein von Kindern, als Kindheit betrachten, womit sie die Bedürfnisse kleinerer, junger Menschen auf Mama und das Kinderzimmer reduzieren. Diesem Kindchen-Schema korrespondiert die Kompensation kindlicher Ohnmacht mit Omnipotenzfantasien: Reine als Charlie Chaplin oder Björn Borg – nur als Idealfiguren tauchen Männer bei ihm auf. Oder aber er lässt sich vom Fernseher, dem modernen Babysitter, mittels lustiger oder gruseliger, in jedem Fall aber harmloser Unterhaltung aus der brutalen Realität in den Schlaf lullen.

Die Regressionen jedoch wie die Omnipotenzfantasien – das zeigt der Film – sind notwendig, um die Insel der Kindheit, diese künstliche Isolierung einer ganzen Klasse von Menschen, den Kindern, von der übrigen Menschheit, der Erwachsenenwelt, zu überwinden. Aber – und das zeigt der Film auch – bedeutet diese Überwindung bloß das Erwachsenwerden und nicht die Aufhebung der Trennung der Menschheit in Kinder einerseits und Erwachsene andererseits. Beide, Kinder wie Erwachsene, sind Opfer bestehender Verhältnisse. Pollak zeigt aber auch die Annäherungen der als antagonistisch erfahrenen Zustände von Kindheit und Erwachsensein: Die Erwachsenen, besonders die Männer, sind nämlich nicht viel weniger hilflos und ohnmächtig im Umgang, mit Realität. So verweist die tendenzielle Infantilisierung der Erwachsenen auf die Ideologizität des Status Erwachsensein.

Klement Weicker

 

Literatur:

Per Christian Jersild, Die Insel der Kinder, Goldmann-Taschenbuch Nr. 6309

 

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