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Ausgabe 58-2/1994

"Man muss erst ein bisschen investieren, um dann viel zurückzubekommen"

Gespräch mit Rolan Bykov, Regisseur, Schauspieler, Produzent, zur Situation des Kinderfilms in Russland und zur Arbeit der Rolan Bykov Foundation

(Interview zum Film DIE VOGELSCHEUCHE)

KJK: Wie hat der Kinderfilm in Russland den Zusammenbruch der UdSSR überstanden und welche Rolle spielte dabei Ihre Stiftung?
Rolan Bykov: "Früher gab es eine sehr mächtige Kinderfilmproduktion im eigens dafür eingerichteten Gorki-Studio. Das war die Blütezeit des Kinderfilms, der damals wirklich an erster Stelle stand. Jährlich wurden durchschnittlich 30 Kinderspielfilme gedreht, die Kurz- und Lehrfilme noch nicht mitgerechnet; 1988 gab es dann nur noch drei Kinderfilmproduktionen; ein ernstes Alarmzeichen. Schon 1985 hatten wir ein Zentrum organisiert und kurz darauf die ersten 15 Filme gedreht. Nach dem Zerfall der UdSSR haben wir uns in eine internationale Stiftung umgewandelt und das erste private Filmstudio gegründet. Gleichzeitig sicherten wir unsere Position in Russland und neun anderen GUS-Ländern. Inzwischen stehen uns achtzehn verschiedene Studios in Russland und neun Studios im näheren Ausland und der Mongolei zur Verfügung. Wir haben bis heute mehr als 60 Filme produziert und damit die ursprüngliche Anzahl der jährlich produzierten Filme wieder erreicht. Doch diese Filme kommen nicht in die Kinos, weniger noch als die für Erwachsene."

Aus welchen Gründen denn?
"Der Kinderfilm ist nicht losgelöst von den Filmen für Erwachsene und ohne eine intakte Vertriebsstruktur in diesem Bereich zu sehen. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass die Filmökonomie oft denselben kriminellen Charakter wie die allgemeine Wirtschaft hier hat, denn der Kinomarkt war wirklich ein riesiges Geschäft. Sogar mitten im Zerfall dieses Marktes kann man mit den Filmen immer noch ein Riesengeschäft machen. Aber leider fließt das Geld heute nicht mehr in die Filmproduktion zurück oder kommt den Filmtheatern zugute, sondern es wandert nur noch in private Taschen. Das kriminelle System der Vermittler zwischen Produzenten und Verleih zerstört den gesamten Markt."

Sehen Sie irgendwelche Chancen, dieses System zu unterlaufen, und welche Maßnahmen möchten Sie dagegen ergreifen?
"Unser Programm besteht aus den Bereichen Produktion, Finanzierung und Verleih. Was die Produktion betrifft, brauchte ein Regisseur für 18 Folgen einer Animationsfilmserie bisher etwa 25 Jahre wegen der völlig unzureichenden Kapazitäten, die sich noch einmal um etwa 40 % reduzieren, wenn das jetzige Studio aus einer ehemaligen Kirche ausziehen muss, die wieder ihrem ursprünglichen Zweck übergeben werden soll. Wir müssen deshalb neue Studios bauen, mit eigenem Labor, eigenem Schnittstudio, Aufenthalts- und sogar Wohnräumen für die Künstler. In unserem Gebäude (Rolan Bykov Foundation) ist bereits ein viel genutztes und lukratives Videostudio eingerichtet, das über vier Betacam-Kameras und alle Möglichkeiten der Nachbearbeitung verfügt. In der Planung befindet sich ein neues Animationsfilmstudio, mit einer eigenen Abteilung für Computergrafik, die für den Kinderanimationsfilm nahezu unentbehrlich geworden ist, je einer Abteilung für Computergrafik und für 'special effects', für Videoproduktion und Kinderfernsehen. Außerdem wird ein 4000 m² großer Superpavillon mit Schwimmbecken gebaut, der für den Bau von aufwendigen Kulissen für Spielfilme zur Verfügung steht."

Wie möchten Sie das alles finanzieren?
"In Zusammenarbeit mit einer amerikanischen Gesellschaft haben wir allein in Moskau bereits 21 ha Grundstücke erworben, deren finanzielle Auswertung uns ermöglicht, die dringend benötigten, noch fehlenden Studiokapazitäten zu bauen. In Entwicklung befindet sich auch ein neues Finanzierungssystem, das von staatlicher Seite mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Das uns vom Staat zur Verfügung gestellte Geld geht dabei nicht verloren, sondern wird nach dem Rotationsprinzip immer wieder in neue Produktionen gesteckt. Grundlage bildet ein Darlehen, das uns Jelzin zu günstigen Bedingungen gewährte. Ich bin eigentlich ein Schauspieler und Regisseur. Ich habe nun das erste Mal mit Geld zu tun und viel Zeit dafür aufgewendet, mich damit auseinander zu setzen. Ich habe sogar eine eigene Bankgruppe organisiert, die erste unabhängige Privatbank überhaupt. Wir mussten mit ganz kleinen Summen anfangen, haben inzwischen 2200 % Umsatzsteigerung, konnten das Grundkapital auf 4 Milliarden Rubel aufstocken und eröffnen bald eine Filiale in den Vereinigten Staaten.
Etwas haben wir bereits verstanden und ich nenne das eine 'Rundumverteidigung'. Wir können noch nicht begreifen, welche gesellschaftliche Ordnung wir im Lande haben; es gibt zu viele soziale Etagen, und man soll einen Passierschein für jede Etage haben. Ich habe ein staatliches Studio und ein privates, ich habe eine Aktiengesellschaft und eine Bank, ich habe eine öffentliche Stiftung und eine kommerzielle Organisation. Die Rundumverteidigung erscheint mir die einzige Möglichkeit, in diesem neuen Mittelalter gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu überleben."

Um auf Ihren dritten Programmpunkt zu kommen: Sie möchten dann auch in den Vertrieb und in das Verleihgeschäft einsteigen?
"Ja, aber das ist relativ kompliziert und ich kann an dieser Stelle auch noch nicht alle Einzelheiten offen legen. Denn hierbei ist eine Konfrontation mit den bestehenden Verleihstrukturen zu erwarten, die von der (russischen) Mafia kontrolliert werden. Zuerst entstand ein freier Zusammenschluss von Produzenten und Verleih. Wir hoffen, schon im Frühjahr 1994 einen internationalen Filmmarkt in unserem Gebäude etablieren zu können, der eine Alternative zu dem Markt der Banditen im Filmgeschäft bietet. Man versuchte bereits, uns zu erpressen und zu unterdrücken, aber wir sind zuversichtlich, diesen Kampf zu gewinnen. Bis Ende 1994 wollen wir auch in allen Teilen Russlands Abteilungen unserer Stiftung einrichten, die direkt mit uns verbunden sind und schnellen Erfahrungsaustausch ermöglichen.
Am wichtigsten halte ich jedoch Folgendes: Das europäische, das große europäische Kino geht unter. Ein Filmstudio in Talinn wurde jetzt geschlossen, das Kino in Litauen stirbt, das große Kino in Georgien stirbt. 96 % des Kinomarktes, mit Ausnahme von Indien und Russland, sind fest in amerikanischer Hand. Ich mag amerikanisches Kino, aber ich mag auch den russischen oder italienischen Film. Deshalb halte ich es für notwendig, dass sich die europäischen Filmländer vereinigen. Wenn es klappt, den Markt der ehemaligen UdSSR zu erhalten, wird das dem georgischen Film helfen und das kann auch den europäischen Film retten. Unser Land kann nicht als Fernsehland gelten, es ist auch kein Videoland, die Kinoproduktion kann hier noch mehrere Jahrzehnte blühen. Wenn Europa den ehemaligen Markt der UdSSR behält, wäre das eine Rettung für den europäischen Film."

Und wie wollen Sie das konkret in die Tat umsetzen? Interessieren sich auch andere Länder, z. B. aus den GUS-Staaten, für Ihre Projekte?
"Zurzeit gibt es zwölf weitere Länder, die in unsere Stiftung eintreten möchten: Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Estland, Lettland, Litauen, Italien, Deutschland, Polen, Ungarn, Bulgarien, die Tschechische und die Slowakische Republik. Mit diesen Ländern möchten wir ein System des Föderalismus aufbauen, bei dem jedes Mitglied selbständig bleibt. Es gibt bereits verschiedene Formen der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Finanzierung mit den verschiedenen Ländern. Die Hauptsache ist jedoch, ein neuartiges Monopol der Filmtheater aufzubauen. Mit der Ukraine gibt es bereits eine Vereinbarung, die uns dort 40 Filmtheater zur Verfügung stellt; in Turkmenien sind es 20, in Kasachstan 60. Unser großes Problem ist, so schnell wie möglich dieses föderative Monopol für Filmtheater aufzubauen, ohne dass diese Filmtheater in unseren Besitz übergehen müssen. Dafür bleibt uns nicht viel Zeit. Dieses Vorhaben lässt sich nur in der jetzigen Periode vor der Stabilisierung verwirklichen, nach der Stabilisierung werden andere das Sagen haben."

Die Frage der Filmtheater hängt auch mit einem stabilen Repertoire zusammen. Welche Filme sollen dort gezeigt werden?
"In erster Linie die Filme aus der Stiftung und wichtige Filme aus anderen Ländern, etwa aus Polen, Italien oder Frankreich, die das Publikum hier in Russland sehen sollte. Ich habe auch z. B. mit Warner Brothers vereinbart, dass sie uns elf Filme aus dem Jahre 1993 geben."

Wie steht es mit den russischen Filmklassikern?
"Die Stiftung soll jetzt die Rechte für diesen Filmstock bekommen. Das Projekt ist so: Es wird ein 'Goldener Fond' des Kinderfilms gegründet, um neue Kopien für die einzelnen Länder herstellen zu können. In der Ukraine ist es wirtschaftlich am günstigsten, da der Rubel dort soviel wie der Dollar zählt. Man muss erst ein bisschen investieren, um dann viel zurückzubekommen. Für mich ist jetzt der Markt wichtig, Perspektiven zu entwickeln und Verhandlungen zu führen. Mit der Unterstützung des Kinderfilms lässt sich auch der einheimische Markt retten."

Mit Rolan Bykov sprach Holger Twele am 10.1.94 in Moskau (beim 16. Intern. Moskauer Kinder- und Jugendfilmfestival)

 

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