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Ausgabe 33-1/1988

"Die Kindheit verlässt uns nie"

Gespräch mit Rolan Bykow

(Interview zum Film DIE VOGELSCHEUCHE)

Rolan Bykow war Gast bei den 'Tagen des sowjetischen Films' im November 1987 in der Westberliner Filmbühne am Steinplatz. Rolan Bykow, einer der bekanntesten russischen Schauspieler und Filmregisseure, ist Vorsitzender der Kinderfilmkommission im Verband der Filmschaffenden der UdSSR, Mitglied der sog. "Konfliktkommission" und Leiter des Moskauer Kinder- und Jugendfilmstudios. Mit Rolan Bykow fand ein Fachgespräch über die Kinder- und Jugendfilmkultur in der Sowjetunion statt, an der ca. 30 Fachleute (Filmjournalisten, Pädagogen, Kinomacher und Mitarbeiter von Kinderkinos und Kinderfilm-Spielstellen) teilnahmen.

Es hatte sich herumgesprochen, dass Bykow direkt aus den USA kam, und so musste er zunächst darüber berichten. "Was ich bewirkt habe, werden wir in der Zukunft sehen", begann er zurückhaltend-optimistisch. "Wir haben fünf Co-Produktionen vereinbart, und zwar in Genres, die wegen unserer früheren Stagnation auf ein niedriges Niveau abgesunken waren, nämlich Märchen und Abenteuerfilme." Ein Märchen von Hans Christian Andersen wird dabei sein und ein phantastischer Abenteuerfilm gegen den Krieg ("Ein internationaler Hexenkongress"). Bykow selbst wird einen Film über "das erschütternde Schicksal einer lebendigen Katze" drehen, nach der Erzählung 'Die Katze in den Slums' von Thompson. Die von der US-Seite eingebrachten Projekte sind eine "im Geiste von Jack London verfasste Geschichte über einen Jungen, der in einer sehr schwierigen Situation gesiegt hat", und eine Detektivgeschichte ("Die Suche nach dem heiligen Gral"). Bykow skizzierte mit der ihm eigenen Ironie den Verlauf der Verhandlungen: "Ich habe vorgeschlagen, die Heldin und ihre Clique zu Russen umzugestalten. Die Amerikaner nahmen das wider Erwarten mit Entzücken auf. Der Producer meinte immer nur: 'Eine neue Nuance, eine neue Nuance ...'. Ich bin sehr im Zweifel, ob wir diesen Film brauchen."

Alle fünf Produktionen sind sehr teuer, und das brachte Bykow zur ersten entscheidenden Umgestaltung im sowjetischen Filmwesen. "Kurz gesagt: Wir müssen jetzt über die Einkünfte nachdenken und danach die Ausgaben planen. Als Filmemacher, der nichts von Büchern und Geschäften versteht, träume ich schon heute von der Zeit, in der unser Kino den Kampf gegen die Kommerzialisierung aufnehmen wird. Aber vorläufig müssen wir diese Kommerzialisierung erst einmal entwickeln."

Die neuen ökonomischen Bedingungen sind eine wichtige Grundlage zum Wiederaufbau des sowjetischen Kinderfilms, die zweite sind die Künstler selbst. Bykow: "Umgestaltung heißt nicht nur Absetzung der alten Führung. Man braucht auch eine neue und es hat sich jetzt herausgestellt, dass viele dazu nicht imstande sind. Sehr viele haben während der Periode der Stagnation die emotionale Tendenz ihrer Kunst verloren. Aber nun muss die Umgestaltung in die Tiefe gehen, die Hauptrevolution, die noch bevorsteht, ist die Änderung des Menschen." Die Blüte des Kinder- und Jugendfilms seien die 60er-Jahre gewesen. Seitdem sei das Genre "kontinuierlich getötet" worden, aufgrund der ökonomischen Vorgabe, vor allem "wichtige" Filme – sprich: Propaganda – zu drehen, sowie aufgrund des "Triumphes der autoritären Schule. Das waren zwei Schläge, die unser Kinderfilm nicht ausgehalten hat. Der Papst hat einmal seiner Kirche sowjetische Filme empfohlen. Die seien immer moralisch und hätten garantiert keine revolutionären Ideen."

Nicht nur konkrete politisch-ökonomische Vorgaben hätten den Kinderfilm herunter gewirtschaftet, sondern vor allem die eigentlich apolitische Bürokratie. Das bürokratische Denken verfolge dabei kein anderes Ziel außer dem eigenen Wohlsein. "Es hat die Welt ganz einfach in Vorgesetzte und Untergebene eingeteilt. Es arbeitet nach einem einfachen Schema: 'Ich bin Lehrer, ich bin klug. Du bist Schüler, du bist dumm. Denn wenn du nicht dumm bist, brauchst du keinen Lehrer!' Man muss dieses Spiel zerstören."

Ein erster, aber bedeutender Schritt war sicherlich die Wiedereröffnung des Moskauer Studios für den Kinder- und Jugendfilm und die Ernennung Rolan Bykows zu dessen Leiter. Die ersten Filme sind bereits produziert und teilweise sogar schon angelaufen. Darunter einiges (nicht nur aus Bykows Studio), was vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Es gibt Filme über bisher verschwiegene Themen wie Drogenabhängigkeit und Prostitution, es gibt junge Heldinnen, die nicht ins offizielle Bild von zukünftigen sowjetischen Leistungsträgern passen, und ungeschminkt provozierende Darstellungen stalinistischer Nachwehen. "Plumbum oder Gefährliche Spiele" des Regisseurs Vadim Abdraschitow etwa zeigt einen Musterknaben, der seine Freizeit damit verbringt, im Rahmen einer halbstaatlichen Law & Order-Brigade die Welt von "Asozialen" zu säubern, kleine Schieber, illegal Jobbende und Obdachlose bei der Miliz zu denunzieren.

Rolan Bykow selbst zeigt in seinem neue Maßstäbe setzenden Meisterwerk "Die Vogelscheuche" in drastischer Weise die Folgen einer falschen Erziehung: Mit stalinistischer Inbrunst inszeniert eine kleinstädtische Schulklasse eine moderne Hexenverfolgung. Lena, "die Neue", wird terrorisiert und zusammengeschlagen, wer Zweifel äußert oder zu ihr halten will, wird ebenso in kollektivem Wahn als "Verräter" boykottiert und bedroht. Nach der Fertigstellung landete "Die Vogelscheuche" zunächst im Giftschrank. 1985 wurde der Film von der Zensur freigegeben – seitdem lockte er 54 Millionen Menschen ins Kino!

"Für mich sind Kinder Kristalle, in denen nicht nur der Mensch, sondern auch die Zukunft zu sehen ist." Rolan Bykow hat als Regisseur zwölf Filme gedreht, davon elf über oder für Kids & Minis. Er selbst wehrte sich allerdings bei diesem Gespräch gegen eine strenge Trennung in Kinder- und Erwachsenenfilm. "Man kann den Film nicht teilen. Warum sitzen Sie hier? Weil es interessant ist. Vielleicht kommt noch etwas Neues. Das ist eine kindliche Erwartung ... Die Kindheit verlässt uns nie."

Bykow plädierte allerdings für eine genaue Beobachtung. "Die Kleinen, vielleicht bis zu 7 Jahren, interessieren sich sehr für die Welt um sie herum, für philosophische Fragen, warum darf man die Natur nicht zerstören usw.; die Mittleren bis 12 oder 13 interessieren sich gar nicht dafür, denn das ist das Alter des Handelns, der Abenteuer; und die 14- bis 16-Jährigen sagen, mich interessiert gar nichts, wichtig bin nur ICH ..."

Rolan Bykow kritisierte das simple Denkmodell, das wohl nicht nur sowjetischen Kinderfilmen zu oft zugrunde liegt: "Der Erwachsene kapiert, das Kind nicht. Der Erwachsene erklärt, das Kind versteht – und alles ist außerordentlich! Aber erstens versteht der Erwachsene nicht; zweitens versteht das Kind – aber was ganz anderes; drittens: Wenn der Erwachsene erklärt, protestiert das Kind. Und womit das alles endet, das sehen wir." Bykow stellte dem die Realität entgegen: "Die Gesellschaft ist immer feindlicher den Kindern gegenüber. Sie kämpft gegen sie und sagt, das sei Erziehung. Die Erwachsenen sind in die Provinzialität abgesunken, denken aber immer noch, sie seien die wichtigsten und ihre Welt sei eine heilige Welt. Aber die erwachsene Welt ist eine Tragödienwelt, eine kriegerische Welt – und so was erzieht unsere Kinder! Die Kunst hat keine andere Chance als die Erziehung durch Wahrheit. Falsche, unehrliche Positionen erzielen nur Zynismus und Unglauben. Wenn Sie einen ehrlichen, kühnen und wahrhaftigen Menschen erziehen wollen, müssen Sie auch selbst ehrlich, kühn und wahr sein. Die Wahrheit im Kinderfilm ist noch wichtiger als in jedem anderen Film."

Klaus Farin

 

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