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Ausgabe 37-1/1989

PELLE DER EROBERER

PELLE EROBREREN

Produktion: Per Holst Filmproduktion ApS / Svensk Filmindustri / Svenska Filminstituten / SID / The Danish Filminstitute (Peter Poulsen/Claes Kastholm Hansen), Dänemark/Schweden 1986/87 – Regie: Bille August – Drehbuch: Bille August, Per Olov Enquist, Bjarne Reuter, nach dem Roman von Martin Andersen Nexö -Kamera: Jörgen Persson – Ton: Niels Arild, Lars Lund – Musik: Stefan Nilsson – Darsteller: Max von Sydow (Lasse). Pelle Hvenegaard (Pelle), Erik Påske (Gutsverwalter), Axel Strøbye (Kongstrup), Astrid Villaume (Frau Kongstrup), Bjørn Granath (Erik) u. a. – Laufzeit: 157 Min. – Farbe – FSK: ab 12, ffr. – Verleih: Concorde-Film (35mm)

"Wenn Du es wirklich willst, kannst Du die Welt erobern." Diesen Satz sagt der über 50-jährige Lasse seinem neunjährigen Sohn auf einem Dreimaster-Schiff, das Ende des 19. Jahrhunderts von Schweden nach Dänemark fährt. In eine bessere Zukunft, wie die beiden glauben. Die Frau und Mutter starb, in Schweden herrscht Not, Dänemark erscheint als das gelobte Land, in dem man Arbeit finden und reich werden kann. Doch die Realität sieht anders aus: Fast wie auf einem Sklavenmarkt müssen sich die schwedischen Emigranten verhökern lassen. Pelles Vater erhält nur eine Hilfsarbeit als Kuhhirte auf dem Gut der Kongstrups. Er ist zu alt, seine Kraft verschlissen. In einem kleinen Kämmerchen neben dem Stall hausen Vater und Sohn, vom Aufseher drangsaliert und gedemütigt, von den Dänen als minderwertig und lächerlich angesehen. Der Gutsherr herrscht wie ein feudaler Despot über seine Angestellten, die ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.

Im Wechsel der Jahreszeiten (hervorragend die Kamera von Jörgen Persson) macht Pelle immer neue Erfahrungen, erlebt Tod in der Eiseskälte, den Frühling mit seinem Erwachen, neue Hoffnung. Der Junge entwickelt sich nicht nur physisch, sondern auch in seiner Intelligenz und seiner Psyche. Genau registriert er, was passiert, begreift nach und nach die Zusammenhänge von Macht und Machtlosen, entwickelt den sehnlichen Wunsch, sich von der Ausbeutung zu befreien, ein Leben in Würde zu führen. Unterstützt von dem rebellischen Knecht Erik (der tragischerweise im Lauf der Geschichte durch einen Unfall zum stummen Schwachsinnigen wird), will Pelle nach Amerika, um dort ein menschenwürdiges Leben in Freiheit führen zu können. Selbst als der Gutsbesitzer ihm durch eine neue Aufgabe sozialen Aufstieg bietet, lehnt er ab. Seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit treibt ihn weg von der Enge des Gutshofes. Er nimmt Abschied von seinem Vater, für den es zu spät ist, und macht sich auf den Weg zur Eroberung der Welt.

Bei den Filmfestspielen in Cannes 1988 erhielt "Pelle der Eroberer" die "Goldene Palme", eine Auszeichnung, die in diesem Fall wohl auch als Hommage an den europäischen Film, an die Tradition des epischen Erzählkinos gelten kann. Bille Augusts Film basiert auf dem vierteiligen gleichnamigen Roman des dänischen Schriftstellers Martin Andersen Nexö, der 1906-1910 erschien. Nexös Werk wird als der erste Arbeiterroman in der dänischen Literatur angesehen, seine Ausführungen enthalten sehr stark autobiografische Elemente. Der Sohn eines einfachen Steinmetzes, der selbst auf der Insel Bornholm die unterschiedlichsten niederen Arbeiten verrichtete, bezeichnete seinen Roman als "Ein Buch über den Proletarier, also über den Menschen selbst".

Bille August, der drei Jahre an diesem Filmprojekt arbeitete, hat die Kindheitsgeschichte, das langsame Erwachsenwerden, in opulente und gleichzeitig karge Bilder umgesetzt, die das Leben in all seinen Facetten zeigt. Pelle lernt durch intensive Beobachtung dessen, was um ihn herum vorgeht, dass einzig das Wissen dem Menschen hilft, ein besseres Leben zu führen, dass Solidarität und Zusammenschluss der Ausgebeuteten die einzigen Mittel sind, Rechte gegenüber den Herrschenden durchzusetzen.

Die einzelnen Charaktere sind exzellent gezeichnet: Der alte Lasse, der seine Ideale und Träume in Alkohol ertränkt, dessen kleines Glück von Geborgenheit bei einer älteren Witwe nur von kurzer Dauer ist, Pelle, der aufmerksame Beobachter, das junge Liebespaar, Milchmädchen und Grundbesitzersohn, deren Liebe nicht existieren darf, das Gutsherren-Paar Kongstrup, das trotz allen Reichtums in Unzufriedenheit lebt, der Mann sämtliche verfügbare Mägde schwängert, nur nicht seine eigene Frau, der Knecht Erik, der jede Krone für seine Reise nach Amerika zurücklegt und dann doch bleiben muss ...

Bille August gelang es, den epischen Stoff so aufzuteilen, dass die jeweils einzelnen kleinen Episoden sich nahtlos in den gesamten dramaturgischen Spannungsbogen einfügen. Hervorragend vor allem Max von Sydow in seiner wohl besten Charakterrolle als Lasse, Pelle Hvenegaard als sensibler und neugieriger Junge an der Schwelle des Erwachsenwerdens. "Pelle der Eroberer" ist ein Film voller Vielfalt, ein manchmal trauriger, manchmal melancholischer, manchmal aber auch fast fröhlicher Film, ein Stück Zeitgeschichte. Es ist eine Geschichte über Glaube und Vertrauen in die Menschlichkeit, über große Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen, über Liebe und Hass, über Siege und Niederlagen. Ein zutiefst menschlicher Film.

Margret Köhler

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 45-1/1991 - Interview - "Ein paar Gefühle borgen"

 

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