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Ausgabe 23-3/1985

DIE GRÜNEN JAHRE – 1979

Polen 1979 – Drehbuch: Jerzy Przezdziecki – Regie: Stanislaw Jedryka – Kamera: Jacek Korcelli – Laufzeit: 97 Minuten (ursprüngliche polnische Fassung 104 Minuten) – Farbe – 16mm-Verleih: BAG; Landesbildstellen

Nach dem Buch (und Drehbuch) von Jerzy Przezdziecki hat Regisseur Stanislaw Jendryka am schlesischen Schauplatz – wo beide damals aufgewachsen waren – inmitten eines polnisch-jüdischen Völker- und Sprachengemischs, die sowohl rührende wie beispielhafte Schicksalsgeschichte eines Siebenjährigen während der Monate vor dem Krieg und nach Kriegsbeginn aufgezeichnet.

Der Film beginnt damit, dass Wojtech einen Schimmel durch die triste Gasse nach Hause führt; der gesellschaftliche Raum ist halb Dorf, halb Proletarier-Vorstadt. Mit knappen Bildern rafft der Regisseur die ganze soziale Szene zusammen. Durch einen Elterndialog (vom Knaben durch den Türschlitz beobachtet) erfährt man, dass die Erwachsenen aus der Armut des Landes mit vagen Hoffnungen in die Armut der Stadt gerieten, wo sie nicht mehr Bauern, noch nicht Arbeiter sind. Es herrscht Not; als mehrmals verprügelter Streikbrecher erntet der Vater nicht Geld, nur Wunden.

Ebenso prägnant umreißt Jendryka die Kinder-Freundschaften Wojtechs. Beim Apotheker König – einem Deutschen – erblickt er die blonde, kleine Erna, beim Schuster Birnbaum, der dem Barfüßler ein Paar Stiefel schenkt, trifft er den bebrillten Abramik. Die Freundschaft zwischen den dreien stiftet sich wie von alleine.

Einberufung des Vaters, Sirenenprobe, feierlicher Appell einer gar zu hübsch kostümierten und gar zu armselig technisierten Truppe – die Vorkriegs-Neuheiten sind überrumpelnd für die Sicht des Kindes, das aus Armut nicht zur Schule darf. Streitgespräch zwischen Kindern: Wie viel Flugzeuge haben die Polen gegenüber den Deutschen? Die Deutschen haben mehr. Aber, so Wojtech, der Bauernsohn, stolz: "Polen hat Pferde!" Auf eben diesen, in heilloser Auflösung, fliehen die Soldaten zurück; fabelhaft motorisiert folgen die deutschen Invasoren. Und die Eltern von Erna König lassen die Hakenkreuzfahne vom Balkon wehen. Währenddessen Wojtechs Mutter polnische Widerständler auf dem Dachboden versteckt. Entgegen der familiären Verbote erhält das Triumvirat Wojtech/ Erna/ Abramik unter deutschem Besatzer-Joch die Freundschaft aufrecht.

Als Wojtech einmal den Abramik besuchen will, wird er Zeuge der – zunächst sanft erscheinenden – Deportation der Familie Birnbaum. Mit aufgerissenen Augen begreift er, dass Jude zu sein lebensgefährlich ist: Die Birnbaums werden niedergemacht, Abramik, der Freund, auf der Flucht angeschossen, achtlos als tot liegengelassen. Versuch, den Buben zu retten, im geheimen Höhlenversteck. Erna hilft, verblüffender Weise. Nach dem gelungenen geheimen Unternehmen, den jüdischen Freund zu einem konspirativen Arzt zu schleppen, kommt Wojtech gerade noch zurecht, die Deportation seiner Mutter durch die Gestapo mitzuerleben: Das Widerstandsnest zu Hause, das er mit großen, verständnislosen Blicken wahrnahm (und billigte), geht in Flammen auf. Schließlich findet der Arzt, der schon Abramik gerettet hatte, nach langer Suche den Vagabunden.

Gewiss, der Junge geht – der Familie verlustig – nun in einer Art hilfreichem sozialistischen Kollektiv auf; angedeutet war die Liebe zu Vater und Mutter ohnedies als eher zweitrangig gegenüber dem symbolischen Völker-Bund der drei Kinder. Der zwar nichtproletarische, aber immerhin humanitäre Internationalismus ist die stark gefühlsbestimmte (und ganz glaubwürdige, berührende) Botschaft des Films. Und das in einem Ausmaß, dass der – persönlich ja betroffene – Regisseur im Gespräch bekannte, ihm sei die moralische Botschaft des Films so deutlich, dass ihre Klarheit ihm schon fast wieder Schwäche bedeutete – zu augenscheinlich, zu einfach fast.

Mit vorzüglicher Machart gewinnt dieser Film die Sympathien des Zuschauers, nicht nur weil er human, fair und gerecht argumentiert, weil er persönliches Schicksal, allegorische Figuration und historischen Tatbestand geschickt miteinander kombiniert, sondern weil er, kein Meisterwerk, aber durch und durch gut und sehenswert, "das Große im Kammerton" (Jendryka) zu vermitteln versteht.

Sebastian Feldmann

 

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