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Ausgabe 28-4/1986

DAS FRECHE MÄDCHEN

L'EFFRONTÉE

Produktion: Oliane Productions Film A 2 / Téléma / Monthyon Films, mit Unterstützung des Ministére de la Culture, Frankreich 1985/86 – Drehbuch: Claude Miller, Luc Béraud, Bernard Stora, Annie Miller – Regie: Claude Miller – Kamera: Dominique Chapuis – Schnitt: Albert Jurgenson – Ton: Gérard Lamps – Musik: Alain Jomy – Darsteller: Charlotte Gainsbourg (Charlotte), Bernadette Lafont (Leone), Jean-Claude Brialy (Sam), Raoul Billery (Antoine), Clothilde Baudon (Clara Baumann), Jean-Philippe Ecoffey (Jean) – Laufzeit: 96 Min. – Farbe – FSK: ab 12, ffr. – Verleih: Concorde (35mm)

Die Hauptdarstellerin (Charlotte, übrigens Tochter von Jane Birkin und Sérge Gainsbourg) ist ein 13-jähriges Mädchen: hoch gewachsen, etwas mager, mit einem noch kindlichen Gesichtsausdruck. Sie befindet sich mitten in der Lebensphase, die man gemeinhin als das "schwierige Alter" bezeichnet. Sie selbst bekennt auch, dass sie "alles andere sein möchte, als was sie im Augenblick ist!" Die Sommerferien beginnen zunächst ohne besondere Ereignisse, daheim in der Familie. Charlotte lebt in einer Kleinstadt, wo ihr Vater seine Klempnerwerkstatt betreibt, mit dem einzigen Vorteil, dass ihr älterer Bruder sie nicht stört, weil er bereits von Zuhause weggezogen ist. Ohne Mutter, hat sie als einzige Vertraute Leone, eine Bekannte des Vaters, die den Haushalt führt. Und dann ist da noch Lulu, ein kleines Mädchen, das sich als Freundin von Charlotte versteht und sie grenzenlos bewundert.

Eines Tages sieht Charlotte ein, dass es keinen Sinn hat, Tag für Tag im Wald spazieren zu gehen, immer wieder begleitet von dieser Göre. Sie wendet sich einem jungen Mann zu, viel älter als sie selbst. Charlotte liefert sich ihm aber keineswegs aus; vielmehr fasziniert sie Clara Baumann, ebenfalls erst 13 Jahre alt und bereits eine erfolgreiche Pianistin. Als ein Konzert mit der Baumann im Städtchen angekündigt wird, hat Charlotte nur eine Idee: Clara kennen lernen und sie als Freundin gewinnen. Nur so hofft sie aus dem etwas stupid-monotonen Alltagstrott herauszukommen. Als sie dann tatsächlich an einem heißen Sommertag den Nachmittag mit Clara verbringen kann, mit ihr spielt und ihre Kleider anprobiert, fühlt sie sich bereits im siebten Himmel. Leone jedoch wirft Charlotte vor, dass sie nur eine "Träumerin" sei und deshalb im Leben noch viel zu leiden haben werde. Und tatsächlich, Charlotte wird durch die Umstände gezwungen, aus ihren Träumereien aufzuwachen und sich der Wirklichkeit des Alltags zu stellen: Denn Clara musste weiterziehen, und die kleine Lulu ist aus Kummer davongelaufen. "Das Leben ist hart und macht mir Angst", gesteht Charlotte. "Das freche Mädchen" ist eine im Grunde grausame Geschichte, und doch voller tiefer Gefühle, gekennzeichnet von einem unerbittlichen Willen zur Hoffnung auf ein besseres Leben.

Claude Millers Film "Das freche Mädchen" wurde beim Giffoni Film Festival/Italien 1986 erstaufgeführt. Obwohl nicht im Wettbewerb, war es für mich die beste Produktion dieses "Internationalen Festivals für Kinderfilme", die wichtige Kriterien eines Films für diese Zielgruppe erfüllt: Der Film wurde für Kinder und Jugendliche gemacht; seine Hauptdarsteller gehören zu dieser Altersgruppe; er entwickelt seine Thematik aus der Perspektive Heranwachsender, und er erfüllt cineastische, filmästhetische und filmdramaturgische Anforderungen, ist also keine Billigproduktion. Auch wenn die unterschiedlichen Welten von Charlotte (handwerklich-bürgerlich, familiär-lokal, kulturell nicht besonders ausgeprägt) und Clara (materiell abgesichert, eher mondän, etwas intellektuell, von Erfolg und Prestige gezeichnet) artifiziell einander zugeordnet erscheinen, so stellen sie doch verschiedene Dimensionen menschlicher Lebensverhältnisse, Ambitionen und Sehnsüchte dar. Dieser Kontrast mag irritierend wirken, er provoziert aber zu Vergleichen und stimmt nachdenklich. Auch wenn der Regisseur seiner Hauptdarstellerin viel Ausdrucks- und Bewegungsmöglichkeiten einräumt, so verfällt er bei der Entwicklung der Konflikte doch nicht in vordergründige Schwarzweiß-Charakterisierungen; Personen und Handlung bleiben vielmehr einigermaßen glaubwürdig, machen die Ausbruchsversuche des Mädchens aus dem Einerlei von Familie und Kleinstadtidylle durchaus verständlich.

Auf die Frage, ob er einen Film ausdrücklich für Heranwachsende machen wollte, meinte Miller, der bei Godard, Bresson und Truffaut als Assistent gearbeitet hatte: "Ich habe dieses Ziel nicht ausdrücklich verfolgt. Ich wollte vielmehr einen Film über die Pubertät machen, die ja eine besondere Phase in der Entwicklung von Jugendlichen ist. Und wenn dieser Film den Heranwachsenden so gut gefällt, dann wohl, weil sie sich mit der Hauptdarstellerin Charlotte, mit ihrer Situation und ihren Problemen gut identifizieren können. So konnte ich über die Pubertätsproblematik auch nicht gut sprechen, ohne Bezug auf die erwachende Sexualität und Erotik zu nehmen; ich denke, dass meine Analyse unzureichend und unvollständig geblieben wäre, wenn ich diesen Aspekt in die Filmgeschichte nicht einbezogen hätte."

Anton Täubl

 

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