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Ausgabe 76-4/1998

"Ich finde es tragisch, dass inzwischen jede Beziehung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen schon verdächtig scheint"

Gespräch mit John Duigan zu "Lawn Dogs"

(Interview zum Film LAWN DOGS)

Nach Erfolgsfilmen wie "Verführung der Sirenen" oder "Leading Man" gelang dem Engländer John Duigan mit dem Film "Lawn Dogs" ein kleines Kinowunder der leisen Töne über die außergewöhnliche Freundschaft zwischen einem zehnjährigen Mädchen und einem jungen Mann. Sein Blick hinter die Fassade der amerikanischen "middle-class" entlarvt den Traum vom Aufstieg für jedermann.

KJK: Sie sind Engländer, lebten lange in Australien und drehten "Lawn Dogs" in den USA. Wie kam es dazu?
John Duigan: "Ich war bis vor ca. zehn Jahren in Australien und wollte eigentlich wieder Filme in Europa
machen. Ich bin hier geboren, das ist mein kultureller Hintergrund. Aber die amerikanische Drehbuchautorin hat die erstickende Atmosphäre der adretten Eigenheimsiedlungen, wo jeder jeden kennt und nichts geheim bleibt, sehr präzise beschrieben. Diese Art von sozialer Kontrolle und sozialer Ausgrenzung sind typisch für jenen Teil Amerikas: Da gibt es die saturierten Spießbürger, die sich mit Mauern gegen die raue Wirklichkeit abschotten und im Gegensatz dazu der von ihnen verachtete, am Rande des Existenzminimums lebende 'White Trash'. Das musste ich in einer dieser typischen Siedlungen drehen. Die Handlung halte ich allerdings für universell."

Hatten Sie keine Angst, dass Ihr Film nach der Affaire Dutroux missverstanden werden könnte?
"Wer den Film sieht, wird ihn als Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft begreifen. Ich finde es tragisch, dass inzwischen jede Beziehung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen schon verdächtig scheint. Als Mann muss man ständig aufpassen, jede liebevolle Geste gerät aufgrund der furchtbaren Ereignisse schnell in Misskredit. Das führt dazu, dass manche Freundschaften aus Angst heraus nicht mehr möglich sind. So interpretieren die Erwachsenen der Vorzeigesiedlung die unschuldige Annäherung zwischen den Einzelgängern als sexuell gefährlich, weil ihre Phantasie mit ihnen durchgeht. Kindsmissbrauch gibt es nicht erst seit Dutroux. Kinder waren immer das schwächste Glied der Gesellschaft. Nur die Sensibilität ist gestiegen. Als Kind verbrachte ich einige Jahre in einem Jungeninternat, im Nachhinein glaube ich, dass da einiges unter den Teppich gekehrt wurde."

Wie gestaltete sich die Arbeit mit der zehnjährigen Mischa Barton?
"Ich habe mit ihr gedreht wie mit einer Erwachsenen. Wenn sie etwas nicht verstand, fragte sie. Ich wollte kein 14-jähriges Mädchen, dann wäre fälschlicherweise eine bestimmte sexuelle Ausstrahlung à la Lolita ins Spiel gekommen und hätte alles verdorben, wahrscheinlich den Voyeurismus angeheizt. Die Unschuld und Naivität bildeten den Dreh- und Angelpunkt."

Was bereitete Ihnen die größten Schwierigkeiten?
"Die Seelenverwandtschaft zwischen den beiden Außenseitern ist der emotionale Fokus – der richtige Blick, die richtige Geste im richtigen Moment. Wir haben zwei Wochen vor Drehbeginn mit den Proben angefangen, auch um Mischa an die Zusammenarbeit mit Sam Rockwell zu gewöhnen. Ebenso wichtig war es, den Unterschied zwischen den gegensätzlichen Welten aufzuzeigen: Auf der einen Seite die saubere Siedlung, in der Gefühle und Gräser auf eine bestimmte Größe zurechtgestutzt sind, auf der anderen der Kontrast von Trents Spontaneität und buntem Chaos inmitten einer ungezähmten Natur. Dieser Gegensatz ist auch meiner Protagonistin anzumerken. In ihrer Umwelt ist sie das nette Mädchen in Uniform und sauberen Söckchen. Kaum verlässt sie diese Enge, wirkt sie wie befreit. In der Community wird sie zur kleinen Erwachsenen gedrillt, draußen darf sie Kind sein."

Was faszinierte Sie am meisten bei diesem Projekt?
"Das Buch habe ich verschlungen und meinem Produzenten Duncan Kenworthy innerhalb von 48 Stunden zugesagt. Ich mag Menschen, die sich der gesellschaftlichen Norm verweigern, die nicht in das System passen, und ich liebe die magische Komponente durch die russische Fabel von Baba Yaga. Kinder leben in einer Welt der Märchen, Monster und Geister und finden sich darin zurecht. Als Erwachsene folgen wir pragmatisch dem Verstand. Diesen Verlust von Phantasie, den wir alle durchmachen, empfinde ich als Verarmung der Seele."

Mit John Duigan sprach Margret Köhler

 

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Ausgabe 73-4/1998

 

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