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Ausgabe 8-4/1981

"Machen nur Idealisten Kinderfilme?"

Interview mit dem holländischen Filmemacher Karst van der Meulen

(Interview zum Film KÄMPFEN FÜR ZWEI und zum Film DIE BANDE VON NEBENAN)

KJK: Die Situation des Kinderfilms in der Bundesrepublik ist nach wie vor schwierig, wie sieht das in den Niederlanden aus?
Karst van der Meulen: "Auch in Holland gibt es nur sehr wenige Kinderfilme. Es gibt auch etwa erst seit 30 Jahren Kinderfilme: Es gab jemanden, der hatte ein Wanderkino und brauchte Kinderfilme. Da hat er angefangen, selber welche zu drehen, so entstand jedes Jahr ein Film, und das war für lange Zeit in Holland die einzige Kinderfilmproduktion."

Und diese Filme sind heute noch im Umlauf?
"Ja, auch heute noch. Aber ich muss sagen, dass ich Respekt habe vor diesem Mann, der so viel Energie da hineingesteckt hat. Er macht es zwar nicht auf eine sehr professionelle Art und Weise, aber die Filme sind. ganz, ganz billig: Er macht einfach alles selbst, er steht an der Kamera, entwirft Dekors, und die Nachbarkinder spielen mit. Da man die Schwächen sieht, hat der Kinderfilm in Holland einen sehr schlechten Namen. Für andere Produzenten und Regisseure war es sehr schwierig, Kinderfilme zu realisieren und die Presse darauf aufmerksam zu machen. Als ich für meinen ersten Film eine Pressekonferenz angesetzt hatte, kam kein einziger Journalist; erst als der Film erfolgreich lief, hat man darüber geschrieben. Das finde ich schlimm. Und es hat etwa sechs Jahre gedauert, bevor ich für meine Filme eine normale Pressekonferenz abhalten konnte. Bei den letzten beiden Filmen kamen die Leute der Filmpresse, vorher wurden immer nur Journalisten geschickt, die etwas lernen mussten – da durften sie dann halt in einen Kinderfilm gehen."

Sie machen seit zehn Jahren Kinderfilme: Wie sah dabei die finanzielle Ausstattung aus? Ist es einfacher geworden, in den Niederlanden Kinderfilme zu machen?
"Kinofilme sind teuer – "Die Bande von nebenan" hat etwa eine Million gekostet. Und bei einem Kinderfilm dauert es sehr viel länger, bis das Geld zurückfließt, denn es sind weniger Vorführungen pro Woche. Meistens haben wir in Holland am Mittwoch, Samstag und Sonntag Kinderfilmvorführungen, also vier bis fünf Vorstellungen pro Woche, da braucht man also eine lange Zeit, um das Geld wieder einzuspielen."

Gibt es denn überhaupt schon einen Ihrer Filme, der seine Produktionskosten wieder eingespielt hat?
"Bei meinem ersten Film – das ist jetzt über acht Jahre her sind tatsächlich die Kosten eingespielt. Ich habe auch einige Filme ins Ausland verkauft, dieses Geld kommt dazu, so dass es schneller geht."

Wie sieht es in den Niederlanden denn mit einer speziellen Kinderfilmförderung aus?
"Das gibt es bei uns leider nicht. Wenn ich einen Kinderfilm produziere, bin ich in der gleichen Situation wie jeder, der einen Erwachsenenfilm macht, d. h. ich muss vorher einen Verleih haben, damit ich vom Production Fund zwei Drittel der Produktionskosten bekomme – das ist aber keine kulturelle Förderung, sondern eine wirtschaftliche."

Ist das Geld nur ein Darlehen?
"Ja, das wird nur geliehen, den anderen Teil muss ich als Produzent selber dazulegen."

Gibt es für die Rückzahlung der Darlehen bestimmte Fristen?
"Nur wenn ein Film überhaupt nicht läuft, wird das Darlehen in eine Subvention umgestellt. Dadurch ist es aber so, dass ein Produzent niemals erst verdienen und dann zurückzahlen, sondern immer erst zurückzahlen und dann verdienen kann."

Wie machen Sie denn da Kinderfilme?
"Ich mache alle zwei Jahre einen Kinderfilm, das habe ich schon fünfmal getan und will es auch fortsetzen. An einem Kinderfilm arbeite ich ungefähr ein Jahr: Ich schreibe die Geschichte, wähle die Hauptdarsteller, danach kommen die Vorbereitungen, Dreharbeiten und Filmstart – das dauert ungefähr ein Jahr. In dieser Jahresfrist verdiene ich kein Geld. Ich muss also vorher immer genug Geld verdienen, deshalb arbeite ich auch beim Fernsehen. Und bisher klappt das, weil auch beim Fernsehen viele Möglichkeiten bestehen, Programm zu machen."

Wie sehen Ihre Erfahrungen mit dem neuen Film "Die Bande von nebenan" aus?
"Für mich ist dieser Film eine neue Richtung in meiner Arbeit. Der Film ist aggressiver und realistischer als meine vorigen Filme, wie z. B. 'Peter und der fliegende Autobus' (in der Bundesrepublik hat er den Titel 'Fliegen ohne Flügel'), in dem ein zwölfjähriger Junge, der behindert ist und im Rollstuhl fährt, die Hauptrolle spielt. Der Film ist ein lustiges Abenteuer mit vielen fremden Sachen: Ein Professor, der Erfinder ist, hat eine Maschine entwickelt, die Sachen gewichtslos macht. Dadurch geht während eines Ausflugs einer Schule ein ganzer Autobus in die Luft, und die Kinder fahren weit weg, aber dazwischen kehren immer wieder die Schwierigkeiten und der Streit um diesen behinderten Jungen, der als normaler Mensch akzeptiert werden will, zurück. Er streitet mit einem anderen Jungen im gleichen Alter – das sind sehr emotionelle Situationen, immer so eine Balance zwischen Phantasie und Realität.
Und auch ein anderer Film, den ich gemacht habe, hatte diese Balance: 'Martin' – so hieß der Film – ist ein Junge, dessen Eltern einen Laden haben und fast keine Zeit für ihr Kind finden. Er hat Schulschwierigkeiten und versucht seinen Eltern zu beweisen, dass er wirklich etwas kann, aber das geht schief. Auch in diesem Film stecken Märchenelemente: Martin wird eingeladen, die Hauptrolle in einem Märchenfilm zu spielen. In diesem Märchenfilm ist er ein Ritter und hat auch einen Streit mit seinen Eltern: Er bekommt die Dialoge und versucht dann, dieselben Dialoge auch zu Hause zu verwenden. Das klappt aber nicht, denn seine wirklichen Eltern verstehen nicht, was er meint und geben immer falsche Antworten. Das sind manchmal komische, aber auch sehr prononcierte Situationen."

Wie umfangreich ist die Kinderfilmproduktion in Holland?
"In den letzten vier Jahren wurden in Holland drei Kinderfilme produziert, zwei von mir ('Martin' und 'Die Bande von nebenan') und ein Film nach einem in Holland sehr bekannten Kinderbuch."

Das ist etwas, was es auch bei uns häufig gibt. Es wird auf bekannte Stoffe zurückgegriffen, weil solche Filme immer sehr leicht das Kinderpublikum erreichen. Deshalb gab es auch in den 50er-Jahren in der Bundesrepublik nur Märchenfilme – Kinderfilme waren Märchenfilme.
"Wenn der Titel bekannt ist, kommen auch die Kinder. Das Traurige ist, dass diese Filme auch heute noch gespielt werden, aber die Kinder haben heute durch das Fernsehen schon so ein Training im Beobachten und sind dadurch schon so kritisch, dass man ihnen nicht einfach billig und schlecht gemachte Filme vorsetzen kann – denn die Kinder von heute sind das Kinopublikum von morgen."

Wenn die Kinder aber jetzt schon anfangen, sich an "Star Wars" und "Kung Fu" gewöhnen, wie sollen sie dann später einmal mit Godard etwas anfangen können?
"Es geht aber doch nicht darum, dass diese Kinderfilme statt 'Das Imperium schlägt zurück' oder 'Aristoicats' laufen, sondern zusätzlich. Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass mein Film im Kino so gut läuft und das Publikum kommt. Auch Kinder von 13 oder 14 Jahren, die also auswählen, ob sie zu 'James Bond' oder zur 'Bande von nebenan' gehen, sehen sich heute die 'Bande' an, aber nächste Woche vielleicht 'James Bond'".

Wie funktioniert denn ihre eigene Filmproduktion?
"Wir haben jetzt ein kleines Studio selber gebaut, kein Aufnahmestudio, sondern ein Tonstudio. Wir können dort den ganzen Filmton aufnehmen, synchronisieren, Musikaufnahmen und auch Montage machen. Wir arbeiten meistens in einer Gruppe von drei – ein Produktionsleiter, ein Tontechniker und ich. Seit kurzem haben wir auch ein mobiles Produktionsbüro in einem Campingbus mit Dusche und Telefon, das können wir dahin stellen, wo wir drehen."

Wie wählen Sie die Kinderdarsteller aus?
"Ein halbes Jahr vor den Dreharbeiten gehe ich in verschiedene Schulen und beobachte die Kinder, aber niemals mit der Kamera. Ich erzähle überhaupt nicht, dass ich komme, um Kinder zu engagieren, natürlich weiß der Lehrer Bescheid. In jeder Klasse sehe ich dann ein, zwei oder drei Kinder, mit denen ich arbeiten kann. Mit diesen Kindern habe ich dann ein Gespräch, das ist nur ein Interview – ich spreche mit ihnen nicht als Kinderfilmproduzent, sondern als jemand, der wissen will, was sie in ihrer Freizeit tun. Wenn ich meine, dass sie gut sind und genug Persönlichkeit haben, spreche ich mit den Eltern und dem Lehrer. Erst wenn alle sagen, wir können es ja mal probieren, werden die Kinder selbst befragt. Danach kommt eine lange Periode, wo sich die Kinder aneinander und an mich gewöhnen, später arbeiten sie mit Video – sie dürfen auf die Straße gehen, Aufnahmen machen, sie filmen einander und verlieren am Ende die Angst vor der Kamera. Das dauert so ein halbes Jahr, erst dann fangen die Dreharbeiten an. Wenn man wirklich mit Kindern drehen will, dann muss man das so machen, wie ich es eben erzählt habe."

Das ist doch aber nur möglich, weil Sie auch selber der Produzent sind. Unter anderen Bedingungen wäre ein Produzent, der das finanziert, und der würde sagen, in so und soviel Tagen muss der Film fertig sein ...
"Es geht aber nicht anders, es sei denn, man arbeitet mit seiner eigenen Tochter wie Wolfgang Tumler. Ich muss zu den Kindern fast so eine Beziehung aufbauen, die muss sehr stark sein, da muss absolutes Vertrauen herrschen. Wenn es ein Problem gibt, muss ich die Person sein, zu der sie kommen, natürlich haben sie einen Lehrer während der Aufnahmen ..."

Sie haben also weiter Schulunterricht. Bei uns ist es häufig so, dass die Kinder keinen Schulunterricht haben während der Dreharbeiten – sie sind dann von der Schule befreit.
"Zum Beispiel die Fernsehserie, die ich jetzt vorbereite das sind fast 80 Drehtage, und ein kleiner Junge von zwölf Jahren ist mehr als die Hälfte davon dabei – fast kein Tag liegt in den Ferien. Er hat einen Privatlehrer, der hält Kontakt mit der Schule, und zwischen den Aufnahmen kann er sich zurückziehen und seine Schularbeiten machen."

Sie haben doch auch ein halbes Jahr in England als Regieassistent bei der 'Childrens Film Foundation' gearbeitet ...
"Ich habe bei verschiedenen Filmen mitgearbeitet. Zuerst war ich zwei Monate bei Carol Reed bei dem Musical 'Oliver' dabei, doch die meiste Zeit habe ich mit Mark Lester Fußball gespielt. Danach habe ich während meiner Studien bei der 'Childrens Film Foundation' mitgearbeitet. Das war eine Serie fürs Kino über eine Schulklasse, die jedes Mal ein anderes Abenteuer zu bestehen hatte. Ich habe sehr viel lernen können, aber man sieht den Filmen an, dass die Leute älter werden und keinen Kontakt mit Kindern haben. Ich arbeite sehr viel mit Kindern, und ich glaube, das ist sehr wichtig, dass man wirklich spürt, was Kinder bewegt, woran sie denken."

Beim Kinderfilmfest der diesjährige Berlinale war auch ein Film der 'Childrens Film Foundation' zu sehen: "Der Junge, den es nie gab" war so eine Krimi-Story, wo die Rollen der Kinder genauso gut von erwachsenen Darstellern hätten gespielt werden können.
"Wenn man solche Kinderfilme sieht, muss man nicht überrascht sein, wenn die Kinder nicht kommen, um sich das anzusehen. Ich finde es verkehrt, wenn man sich nach unten biegt und mit einer verdrehten Stimme zu Kindern spricht und meint, dass das Idioten sind. Kinder von zehn Jahren wissen sehr viele Sachen über Aggression, Gewalt und Sexualität: Wenn man ein Stück Seife oder Tee in der Werbung mit einer nackten Dame verkaufen will, ist das doch eine Situation, mit der Kinder täglich konfrontiert werden – da kann man doch in einem Kinderfilm mit einem Mal nicht sagen, das verstehen Kinder nicht."

Wie viele Filme produziert die 'Childrens Film Foundation'?
"So vier bis fünf Langfilme pro Jahr."

Lang heißt in Großbritannien 60 Minuten?
"Ja, die Filmvorführungen sind immer am Samstagvormittag. Aber die Film-Foundation stirbt langsam. Vor einem Jahr gab es noch etwa 700 Kinos, die 'saturday morning cinema' machten, und jetzt sind es nur noch weniger als 200. Es gibt eben die Schwierigkeit, dass dieselben Kinos am Freitag eine Nachtvorstellung geben, und so hat der Vorführer dann am Samstagmorgen keine Lust, früh aufzustehen."

Ich halte auch Nachmittagstermine für günstiger, obwohl manche Kino-Zentren Kinoprogramme für Kinder am Sonntagvormittag durchführen.
"Bei den Berliner Filmfestspielen hat es ja eine Pressekonferenz gegeben, bei der sich Verleiher und Kinobesitzer Gedanken über den Kinderfilm und den Einsatz machten. Aber ich bin wirklich ein bisschen böse, wenn man sagt, dass Kinder die Filmtheater ruinieren und kaputtmachen ..."

Werner Grassmann von der AG Kino hat auf dieser Pressekonferenz erzählt, dass er in Hamburg ein spezielles Kinderkino einrichten will.
"Damit bin ich auch nicht einverstanden, Kino ist doch eine Festlichkeit. Wenn man in ein richtiges Kino kommt, hat man doch nicht nur die Erfahrung, dass man Filme sieht, sondern auch das Ganze Drumherum gehört dazu. Wenn die Kinder in ein spezielles Kinderkino gehen und dann 'Star Wars' in einem großen Kino sehen, ist das doch gleich wieder eine Abwertung."

Wie bewerten Sie das Kinderfilmfest der Berlinale?
"Ich muss sagen, dass ich beim Berliner Kinderfilmfest sehr stark das Gefühl habe, das ist eigentlich kein Festival, das ist nur eine Nebenveranstaltung, weil im Hintergrund, hinter den Kulissen des großen Festivals, und das hat mich ein wenig traurig gemacht."

Sie kennen ja auch andere Festivals, bei denen Kinderfilme gezeigt werden – sieht es da anders aus?
"Es gibt zwei unterschiedliche Festivalsituationen: Große Festivals, wo auch Kinderfilme gezeigt werden, und spezielle Kinderfilmfestivals, und da ist die Situation natürlich anders. Aber wenn ich Berlin mit Moskau vergleiche, ist der Unterschied schon groß. In Moskau bekommt jeder Film die gleiche Aufmerksamkeit, auch für Kinderspielfilme werden dort Pressekonferenzen veranstaltet."

Aber ist das nicht auch ein prinzipieller Unterschied in der Beurteilung zwischen West- und Osteuropa?
"Vor einigen Jahren gab es in Teheran eine Konferenz über die Probleme des Kinderfilms, da habe ich gemerkt, dass nur in den osteuropäischen Ländern die Einschätzung vom Wert eines Kinder- und Erwachsenenfilms identisch ist. Und in allen anderen Ländern sind es nur Idealisten, die Kinderfilme machen – und das ist schade."

Das Gespräch führte Manfred Hobsch

 

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