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Ausgabe 16-4/1983

"Positive Kraft der Märchen"

Gespräch mit Rita-Maria Nowottny-Genschow und Gabriel Genschow

Interview

Die Popularität der Gebrüder-Grimm-Märchen ist in Deutschland unbestritten. Den Märchenfilmproduzenten dienten sie häufig als Vorlage. Einige dieser Märchen erlebten in den 50er-Jahren sogar zwei oder mehr Verfilmungen. In den Jahreszeiten Herbst und Winter haben alljährlich die Märchenfilme in den kommerziellen Kinos wieder Konjunktur. Fritz Genschow, in Berlin als Rundfunkmärchenerzähler "Onkel Tobias vom RIAS" noch heute ein Begriff, drehte in den 50er-Jahren als Produzent "Frau Holle" (1954), "Aschenputtel" (1955), "Ina, Peter und die Rasselbande" (1955), "Kalle wird Bürgermeister" (1956) und "Die Gänsemagd" (1957). Nach seinem Tod setzen jetzt seine Frau Rita-Maria Nowottny-Genschow und sein Sohn Gabriel Genschow die Märchenfilm-Tradition aus dem Hause Genschow fort: Sie verleihen weiterhin die alten Märchenverfilmungen von Fritz Genschow und kümmern sich ebenfalls um eine Belebung des Genres Märchenfilm. Rita-Maria Nowottny-Genschow hat gerade die Dreharbeiten für "Schneeweißchen und Rosenrot" nach einem Treatment von Fritz Genschow und einem Drehbuch von ihrer Tochter Marina Genschow (die auch in der Rolle von Schneeweißchen selbst mitspielt) beendet; um den technischen Ablauf und die Kamera sorgte sich Gabriel Genschow.

KJK: Wie kommen denn die alten Märchenfilme bei den heutigen Zuschauern an?
Gabriel Genschow: "Wir machen Nachmittagsvorstellungen mit unseren Spielfilmen. Im Sommer spielen die Kinder normalerweise draußen, im Herbst und Winter gehen sie natürlich gern ins Kino, mit ihren Altersgenossen oder sehr kleine Kinder im Familienkreis."
R.-M. Nowottny-Genschow: "Erstaunlicherweise auch ganz viele Kinder mit vielen Erwachsenen: Mutti, Vati, Tante, Oma ..."
Gabriel Genschow: "Manchmal sogar mehr Erwachsene, wenn es das einzige Kind ist ..."

Vielleicht sind auch Leute dabei, die sich noch einmal an die eigene Kindheit erinnern wollen?
R.-M. Nowottny-Genschow: "Das auch, aber vor allem das Erleben des Kindes. Märchen haben eine starke Wirkung auf das Kind, und das zu erleben, ist immer wieder schön. Ich hab' es also bei meinen Kindern erlebt, als sie ganz klein waren, Marina und Gabriel, die haben sich praktisch jedes Märchen zehn Mal angesehen und jedes Mal kam etwas anderes und jedes Mal haben sie wieder mit dem Finger im Mund dagesessen."
Gabriel Genschow: "Wir sind ja nun mit Märchen groß geworden, natürlich vornehmlich mit den Märchenfilmen, aber auch mit Märchenerzählungen. Für mich war noch, als ich zwölf, vierzehn Jahre alt war, jeder Wald ein Märchenwald, in dem es Riesen und Zwerge gab, also nicht nur eine Ansammlung von Holz. Das stärkste dabei für mich ist, dass es mir eine positive Lebenskraft gegeben hat. Ich habe immer dieses Ursprungsmärchen, dass einer hinauszieht und in der Ferne ein Abenteuer besteht, im übertragenen Sinn eine Situation zu meistern, eine Lebensphase zu bestehen, sich mit Menschen und Gedanken auseinander zu setzen, auf meine Person bezogen und daraus die Kraft geschöpft, hinauszugehen und was Neues zu wagen: Das verleiht mir ständig Kraft."
R.-M. Nowottny-Genschow: "Ich habe neulich gerade mit einer Mutti gesprochen, die ein fünfjähriges Kind hat, ein kleines Mädchen, das gar keine Phantasie von sich aus entwickeln wollte. Dem Kind wurden Videospiele vorgesetzt, und dann ging sie in ein Märchen: Das Kind ist wie umgewandelt. Diese Erfahrung haben schon viele Eltern gemacht, und deshalb ist die Anfrage auch so groß. Seit dieses Mädchen im Märchen war, entwickelt sie eine Phantasie und jeden Tag spielt sie was anderes."

Was Sie eben schon angesprochen haben – die technische Entwicklung der letzten Jahre – hat ja die Phantasie bei den Kindern reduziert oder sogar völlig aufgehoben ...
Gabriel Genschow: "Da läuft viel Negatives, aber man muss auch sagen, dass der Mensch genügend Möglichkeiten hat, auch wenn der Konsum erhöht wird, die wirklich kreativen Seiten zu betonen und Phantasien zu entwickeln. Im Negativen kann es so sein, dass die phantasievolle Entwicklung zugedeckt wird und eine ganz nüchterne Rezeptionshaltung entsteht."

Für Kinder sind Tele-Spiele und auch Videokassetten eher ein Phantasie-Ersatz, bevor man sich eine Spielsituation ausdenkt, greift man halt lieber zum Apparat und lässt sich die Phantasie liefern.
Gabriel Genschow: "Die Isolation des Einzelnen wird dadurch noch vorangetrieben, jedes Kind hat schon einen eigenen Fernseher, und da ist die Gefahr sehr groß, dass nur noch Videospiele und Kassetten abgerufen werden. Mit unseren Märchenfilmvorstellungen in den Kinos streben wir dahin, das erste visuelle Erlebnis eines Spielfilms so harmonisch wie möglich zu gestalten: Als Gemeinschaftserlebnis mit Gleichaltrigen, in der geborgenen Atmosphäre von Vater, Mutter und Freunden, mit behutsamen Filmen, um den Kindern den Einstieg in diese Zauberwelt so schön wie möglich zu machen. Wir greifen einfache Volksmärchenthemen auf, gestalten sie einfach, aber niemals kitschig oder primitiv, damit das Kind diese Urprobleme der Beziehungen zwischen Menschen aufnehmen kann und dadurch seine Lebenskraft gestärkt wird."
R.-M. Nowottny-Genschow: "Ich kann gar nicht sagen, wie ungeheuer wichtig Märchenfilme sind. Wenn Sie sich das mal überlegen, was so ein Märchen beinhaltet und wie wir heute zu kämpfen haben – allein die Beziehung Kind-Eltern, die wird doch immer mehr gegeneinander gebracht: Manchmal durch Hektik, Nervosität, manchmal wird es auch richtig geschürt, dann die Drogen, Alkohol und bei den Eltern Isolation, schwer erziehbare Kinder, Entziehungsheime, Sonderheime. Wie soll die Welt und das miteinander Existieren funktionieren, wenn nicht mal der Grundbegriff Familie da ist. Es müsste für den Staat eigentlich das Wichtigste sein, den Grundbegriff Familie zu stärken, denn wenn sie kein Verständnis füreinander aufbringen, kann es gar nicht weitergehen."

Ich glaube das gerne, dass die Märchen da eine Kraft sein können, aber das alleine reicht bestimmt nicht, um die Vielzahl der Probleme, die Sie eben angesprochen haben, zu lösen. Das wäre eine Überfrachtung ...
R.-M. Nowottny-Genschow: "... aber es gibt beim kleinen Kind einen Anlass. Religionsunterricht haben sie nicht, was auch was Gutes hätte. Es ist doch heute z. B. schon fast ein Sport bei den Kindern, zu klauen und dabei nicht erwischt zu werden: Das ist doch auch nicht in Ordnung."
Gabriel Genschow: "Es gibt mehrere Aspekte des Märchens, es gibt viele Märchen voller Grausamkeiten, Totoschlägereien, Inzucht, und es kommt jetzt darauf an, welche Aspekte man betont. Die Märchen haben natürlich mit der zunehmenden Humanisierung des Menschen, indem man Wertbegriffe gebildet hat, Staatsbegriffe usw. eine Wandlung erfahren, um dem Menschen zu zeigen, dass er friedlich mit anderen Wesen zusammenleben soll, damit er für den Staat oder die Religion etwas Gutes tut. Ich würde sagen, dass er für sich selbst etwas Gutes tut und innere Zufriedenheit erlangt. Und diesen Aspekt versuchen wir jetzt bei 'Schneeweißchen und Rosenrot' herauszukehren: Die beiden Schwestern sind zufrieden und glücklich, weil sie das tun, was die Situation erfordert. Sie helfen anderen in einer Notsituation, nicht weil sie eine Anerkennung oder Geld erwarten – und siehe da, diese Wesen sind zufrieden. Und in ihrer Zufriedenheit lösen sie die Probleme, die sie innerlich beschäftigen. Und das wird den Kindern vermittelt: Ein bestimmtes Problem taucht auf, wird in die Entscheidungsphase getrieben – also ob sie dem Zwerg helfen oder nicht helfen, ob sie dafür eine Belohnung erhalten oder nicht. Das Problem wird gelöst: Der Bär wird in den Prinzen zurückverzaubert."

Sie sprachen eben von der Humanisierung, die die Märchen erfahren haben. In den Märchenfilmen wurde diese Humanisierung doch noch ein Stück weitergetrieben, brutale Aspekte wurden stark zurückgenommen.
Gabriel Genschow: "Mit Sicherheit, Volksmärchen sind ja eigentlich für Erwachsene, fantastische Geschichten für naive Erwachsene. Das ist die Parallele: Die Naivität der Erwachsenen, die in früheren Zeiten gelebt und nicht rational gedacht haben, und die Naivität der Kinder, aber die Kinder haben ja noch nicht die Erfahrung und die Möglichkeit der Bewältigung der Grausamkeiten, wie es die Erwachsenen hatten – und wenn wir jetzt die Volksmärchen für Kinder bearbeiten, dann können wir nur Dinge zeigen und erklären, die dem Kind zugänglich sind, die seinem Horizont eine Möglichkeit der Erfassung bieten. In dem 'Hänsel und Gretel'-Film meines Vaters ist von der Hungersnot die Rede, aber sie ist nicht so herausgeholt, und die Hexe, die verbrannt wird, was im Film nur ganz kurz angedeutet wird, steht einfach für das Problem der Hungersnot, dass sie nicht anders lösen konnten."

Für Märchenverfilmungen sehe ich ein generelles Problem: Phantasiebilder, die beim Vorlesen von Märchen entstehen, müssen bei der Übertragung in das Medium Film eindimensional werden. Wird da nicht der Spielraum der Phantasie eingeschränkt?
Gabriel Genschow: "Viele kritisieren Märchenverfilmungen, die eigentlich für Märchen sind, weil das Märchen vorgelesen und dadurch die Phantasie des Kindes angesprochen werden soll. Diese Meinung kann man durchaus vertreten. Wir vertreten die Meinung, dass bei den heutigen Verhältnissen, alles optisch und akustisch zu gestalten, eine Begegnung mit diesen Medien unumgänglich ist. Märchenfilme sollten Dinge, die im Märchen nur angesprochen sind, ausgestalten und so präsentieren, dass neue Phantasien und neue Entwicklungen damit in Gang gesetzt werden. Dazu müssen Sie sich in die kindliche Seele hineinversetzen können und den Film künstlerisch gestalten, so dass es immer behutsam geschieht, also dem Kind nichts aufzwingt, und auf der anderen Seite so dicht, dass das Kind mit seinem Gefühl voll einsteigen kann."

Halten Sie diese knapp dreißig Jahre alten Märchenfilme eigentlich noch für zeitgemäß?
R.-M. Nowottny-Genschow: "Die Filme haben eine ungeheure Lebendigkeit, die niemals unmodern wird. Das war Papas Leben, sein ganzes Wesen, das war ja ein Leben für die Kinder, er hat es ja richtig erfühlt und das spürt man durch und das kann gar nicht unmodern werden."
Gabriel Genschow: "Weshalb die Filme heute noch laufen und auch bei den Kindern so positiv aufgenommen werden, das hat zwei Ursachen. Mein Vater hat erst die Märchenfilme gemacht, als er schon jahrzehntelange Erfahrung als Schauspieler und Regisseur und auch im Umgang mit Kindern hatte: Er war etwa fünfzig und hatte eine ungeheure Reife, aber er hatte noch die jugendliche Spontaneität und Kraft, um sich in die kindlichen Seelen hineinzuversetzen. Man sollte heute – da gebe ich Ihnen in gewisser Weise recht – die Filme einigermaßen im Stil schon verändern, denn bei den alten Filmen sehen die Erwachsenen schon, dass es der Stil der 50er-Jahre ist, und der Stil wandelt sich, aber diese äußeren Dinge merken Kinder ja gar nicht; solange diese Lebensfrische durchkommt, und ein 'historischer Kostümfilm' hängt auch nicht so an den Zeiten, so dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, ob sie in den 80er- oder 50er-Jahren gedreht sind."

Waren die Filme "Ina, Peter und die Rasselbande" und "Kalle wird Bürgermeister" eigentlich gezielte Versuche, aus dem Märchenfilmbereich auszubrechen?
R.-M. Nowottny-Genschow: "Nicht weg von den Märchen – er hat in den Märchen auch immer soziale Aspekte gehabt."
Gabriel Genschow: "Mein Vater hat sich von Jugend an sehr mit den sozialen Dingen beschäftigt und natürlich versucht, sie auch in seiner späteren Filmarbeit einzusetzen. Natürlich kann es auch bei uns sein, dass wir mal Erwachsenen-Stoffe machen, aber erst mal will ich noch eine Weile Lebenserfahrung haben."

Sie beschäftigen sich nicht nur filmisch mit Märchen, Herr Genschow, sondern auch wissenschaftlich, Sie betreiben Märchenforschung.
Gabriel Genschow: "Seit 1980 mache ich das konkret, meine Magisterarbeit habe ich über die Frauengestalten in Grimms Hausmärchen geschrieben. Bei den Vorarbeiten habe ich festgestellt, dass es verschiedene Zweige der Märchenforschung gibt, ethnologisch, tiefenpsychologisch von Freud bis Bettelheim, anthroposophisch: So kann man verschiedene Wurzeln und Entwicklungen in Märchen erkennen und das dient mir zu meiner allgemeinen Bereicherung bei der Beschäftigung mit Psychologie und Anthropologie. – Kraft, Erfahrung und Weisheit, die in der Entwicklung dieser Märchen stecken, auf die einfachste Weise dargeboten, Lebenserfahrungen, um die wir nicht herumkommen, Konflikte, die uns alle im Laufe des Lebens betreffen, darauf will ich die Kinder in den Filmen vorbereiten, dass sie sie spontan erfassen und die Kraft haben, Konflikte auf positive Weise zu bewältigen – also zu positiven Menschen werden."

Das Gespräch führte Manfred Hobsch

 

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