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Ausgabe 21-1/1985

LARS AN DER SCHWELLE

LARS I PORTEN

Produktion: Movie Makers / Norsk Film A/S, Norwegen 1984 – Buch und Regie: Leif Erlsboe – Kamera: Svein Kroevel – Musik: Freddy Lindquist – Laufzeit: 95 Min. – Farbe

Der Titel des Spielfilms ist im übertragenen Sinne wörtlich zu verstehen. Beschrieben wird der psychische und physische Zustand eines Zwölfjährigen in der Pubertät, in jenem schwierigen Übergangsstadium zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, das subjektiv als Wechselbad zwischen Euphorie und Depression empfunden, objektiv als wichtige Nahtstelle in der Entwicklung eines Menschen beschrieben wird. Für Romanautoren und Filmemacher ist es immer wieder ein faszinierendes Thema, dessen glaubhafte künstlerische Umsetzung freilich höchste Sensibilität und ein sicheres Erzählpotenzial voraussetzt – Bedingungen, an denen viele Darstellungsversuche gescheitert sind.

Um es vorwegzunehmen: Der vorliegende Film ist eines der wenigen Beispiele des Genres, das als gelungen bezeichnet werden kann. Diese positive Einschätzung hat sicher zum einen damit zu tun, dass der Regisseur, wie die meisten seiner skandinavischen Kollegen, sein Handwerk gründlich gelernt hat. 1943 geboren, war er schon sehr früh in den 60er-Jahren in vielen Bereichen der Filmarbeit tätig (Dramaturgie, Produktion, Tontechnik, Schnitt), und ab 1967 begann er selbst eigene Filme, zunächst Kurzfilme, zu machen. Sein erster Spielfilm ("Bitte keine Rosen", 1979) beschäftigte sich mit den Problemen eines straffällig gewordenen Mannes nach der Haftentlassung. Aber nicht nur das handwerkliche Können verleiht seinem zweiten Spielfilm ("Lars an der Schwelle") Überzeugungskraft, Authentizität und ein hohes Maß an atmosphärischer Genauigkeit in der Milieu- und Personenbeschreibung. Leif Erlsboe hat nämlich die Hauptrolle seines Films, den Lars, mit seinem eigenen Sohn besetzt, und es stand ihm somit ein einmaliger Fundus an gemeinsamen Erfahrungen, Gefühlen und Reflexionen zur Verfügung. Daneben sind sicher autobiografische Notizen aus dem Arbeiter-Milieu, aus dem Erlsboe stammt, sowie aus der Zeit der 50er-Jahre, in der der Film spielt, in das Drehbuch eingearbeitet worden. Diese 50er-Jahre sind, und damit bekommt der Titel des Films einen doppelten Sinn, gleichfalls als Schwelle zu sehen, als Zeit des Umbruchs zwischen Besetzung, Elend, Krieg und beginnendem Wohlstand und neu gewonnener Freiheit.

Vor diesem inneren und äußeren Hintergrund wird die Geschichte von Lars erzählt, ohne große Emotionen, mit einem feinen Blick für Details und menschliche Zustände. Lars ist, wie gesagt, zwölf Jahre alt und erlebt einen heißen Sommer in einem Osloer Arbeiterviertel. Er ist neugierig auf alles, was in ihm selbst und um ihn herum vorgeht. Und diese Neugier lässt uns der Regisseur-Vater sinnlich miterleben, sozusagen mit der Kamera auf Augenhöhe des Jungen. Er will nicht erklären, nicht analysieren, sondern einfach ein Stück Leben erzählen. Daraus ist kein Entwicklungsfilm mit großer Linie geworden, sondern eher ein Film aus vielen kleinen Geschichten, episodisch, wie ein Junge im Alter von Lars sich selbst und seine Eindrücke von der Welt erlebt.

Wir nehmen hautnah teil an seinem staunenden Sehen, und die schönsten Szenen in dem Film sind die langen ruhigen Einstellungen, in denen Lars einfach dasteht und beobachtet, in denen die Kamera von seinem Gesicht wegfährt auf die Objekte seines Schauens, und wir schauen mit ihm, atemlos, betroffen oder amüsiert. So sehen wir die Eltern von Lars, die sich gedanken- und haltlos auseinander leben; wir sehen Lill, eine Gelegenheitsprostituierte, die gern mit Lars Tango tanzt; wir sehen die Freunde Peter und Kalle, den Seemann, der auf jeder Landkarte zu Hause ist; und wir sehen Tobby, einen Onkel, wie er im Buche steht. Tobby hat ein Motorrad mit Beiwagen, und für Lars ist es das größte, mitfahren zu dürfen, obwohl ihm bei jeder Fahrt schlecht wird und er nach den ersten Kilometern regelmäßig in die Büsche muss, begleitet vom gutmütigen Lachen des Onkels.

Und bei allem Sehen bleiben wir, wie Lars, in einem seltsamen distanzierten Schwebezustand, so, als ginge ihn und uns das alles nur aus der Ferne etwas an, was da geschieht. Aber wir haben Lars die Erkenntnis voraus, dass dieser Zustand nur von kurzer Dauer ist, dass ihn die Wirklichkeit sehr bald brutal beenden wird.

Ein sehenswerter Film also. Die Frage ist: für wen? Sie spielte auch in Lübeck wieder eine Rolle, wo der Film bei den Nordischen Filmtagen 1984 zum ersten Mal in der Bundesrepublik vorgeführt wurde, noch unsynchronisiert. Zweifellos ist er kein Kinderfilm in dem Sinne, in dem wir kategorisiersüchtigen Deutschen diesen Begriff verstehen. "In Skandinavien gibt es keine Filme nur für Kinder oder nur für Erwachsene, es gibt nur Filme für Menschen", hat in Lübeck einmal jemand gesagt, der es wissen muss. Wie in anderen ähnlichen Filmen aus dem Norden, in denen Kinder Hauptrollen spielen ("Gummi Tarzan", "Stine", "Ich bin Maria", "Der Verrat", "Elvis! Elvis!"), ist auch bei "Lars an der Schwelle" die Adressatengruppe nicht eindeutig festzulegen, weil die Kinder und die Erwachsenen in den Filmen als Protagonisten mit gleichem Ernst behandelt werden. Wir wissen leider, dass das bei uns noch lange nicht so ist, dass bei uns "Kinderfilme", vor allem vom Fernsehen produzierte, bei Erwachsenen meistens keine Chance haben, weil sie, die Erwachsenen, in ihnen überwiegend versimpelt oder gar verblödet dargestellt werden. Wir tun uns eben schwer mit der Gleichberechtigung der Generationen. Gott sei Dank gibt es aber auch bei uns schon Ausnahmen, zum Beispiel "Lisa und die Riesen" oder "Flussfahrt mit Huhn".

Auf die einfachste Formel gebracht, könnte man sagen, sowohl Jugendliche ab zwölf als auch Erwachsene werden diesen Film mit Gewinn sehen, am besten wäre es, sie würden ihn gemeinsam sehen und gemeinsam über ihn reden. Und so steht zu hoffen, dass sich bald ein Verleih findet, der den Film sorgfältig synchronisiert, ihn liebevoll betreut und ihn breiten Zuschauergruppen erschließt – vielleicht im "Jahr der Jugend" 1985? Aber wie die Dinge liegen, bleibt diese Hoffnung wohl leider wieder Utopie.

Bernt Lindner

 

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