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Ausgabe 55-3/1993

SIMÉON

Produktion: Saligna Production, Martinique / Frankreich – Regie: Euzhan Palcy – Buch: Euzhan Palcy, Jean Pierre Rumeau – Kamera: Philippe Welt – Schnitt: Marie-Josephe Yoyotte – Musik: Bruno Coulais – Länge: 115 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Saligna Production, 111 Rue Saint Maur, F-75011 Paris, Tel. 43 380517 – Altersempfehlung: ab 10 J.

In einem kleinen Dorf auf den Antillen lebt Siméon, ein alter Musiklehrer, der bei allen sehr beliebt ist. Sein Schüler Isidor, ein Mechaniker und begabter Gitarrist, träumt davon, einen neuen kreolischen Musikstil zu entwickeln, der weltweit so populär werden soll wie Jazz oder Reggae. Als Siméon bei einem Unfall stirbt, scheint der Wunschtraum schon erledigt. Doch kurz vor der Bestattung schneidet Isidors zehnjährige Tochter Orélie heimlich den Zopf des Toten ab, um ihn als Reliquie aufzubewahren. Allerdings weiß sie noch nicht, dass ein karibischer Mann nicht endgültig zur Ruhe kommen kann, solange ein Lebender noch ein Teil von ihm besitzt. So kehrt Siméon aus dem Reich der Toten zurück und spielt als munterer Zombie seinen Angehörigen und Bekannten so manchen Streich. Dabei macht er sich die Tatsache zunutze, dass diese ihn nicht sehen können.

Als die Herrin des Feuers bei Orélie erscheint, um Siméon zurückzuholen, weigert sich das gewitzte Mädchen, den wertvollen Zopf herauszurücken. Schließlich hat sie von Siméon gelernt: "Nur gute Lügner werden gute Geschichtenerzähler." Um den Traum ihres Vaters Wirklichkeit werden zu lassen, verpflichtet sie Siméon zur Hilfe. So erzählt sie uns eine phantastische Geschichte, in der Isidor und Siméon nach Paris reisen, um Karriere zu machen. Nach vielerlei Verwicklungen und überraschenden Ereignissen gelingt es Isidor, die Gruppe Jacaranda zu bilden. Mit einem erfolgreichen Konzert vor heimischem Publikum schafft er endlich den Durchbruch. Nun kann Orélie dem "Untoten" endlich seine verdiente Ruhe geben.

Die auf Martinique geborene Regisseurin Euzhan Palcy knüpft in Erzählhaltung und Lokalkolorit an ihren Debütspielfilm "Die Straße der Negerhütten" an, der 1983 bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet wurde. Ihr neuer Familienfilm mit seinen zahlreichen musikalischen Einlagen sprüht nur so vor Phantasie und Optimismus. Beim 13. Panafrikanischen Filmfestival FESPACO in Ouagadougou/Burkina Faso erhielt er im Februar 1993 rauschenden Beifall. Der überdrehte Humor, die farbenfrohe Ausstattung und der Mut zu kitschig-sentimentalen Bildern sind allerdings nicht jedermanns Sache. Wer sich jedoch auf die eigenwillige Poesie dieses Filmmärchens einlässt, wird sich zwei Kinostunden lang nicht langweilen.

In "Siméon" beweist Palcy ein gutes Gespür für die kindliche Erfahrungswelt. Als Orélie und ihre Schwester zwei Geschenke erhalten, reagieren sie auf eine sehr typische Weise. Die kleine Schwester packt erwartungsvoll eine Puppe aus, sagt dann aber traurig: "Oh, die ist ja schwarz!" In Ouagadougou löste dieser trockene Kommentar Szenenapplaus aus. Als Orélie einen Walkman bekommt, probiert sie ihn sofort aus und posiert zur fetzigen Musik vor einem Spiegel.

Für Europäer besonders beeindruckend ist der spielerische Umgang mit dem Tod. Die Regisseurin greift dabei auf kulturelle Eigenarten Westindiens zurück: "Für uns sind die Toten nicht tot. Indem ich Siméon (...) zurückkommen lasse, sage ich den Leuten: Machen wir uns über den Tod lustig, nichts ist je beendet!" So lässt sie denn auch am Ende des Films Orélie sagen: "So, Monsieur Siméon ist gegangen, er ist der Ewigkeit wieder begegnet", worauf Siméon spöttisch antwortet: "Ein Negerwort hat kein Ende." Vielleicht kommt er also doch noch einmal zurück!?

Wer Zombies bisher nur aus westlichen Horrorfilmen kennt, wird irritiert zur Kenntnis nehmen müssen, wie Palcy dieses Konzept quasi auf den Kopf stellt. Dazu adaptiert sie die traditionelle karibische Vorstellung von "Soucougan", von Toten also, die die Schritte der Lebenden leiten, auf geschickte Weise in die moderne Zivilisation. Der Respekt der Lebenden vor den Toten wird noch einmal sinnfällig in der Schlussszene gezeigt, in der Siméons Verwandte, Freunde und Bekannte bei einem großen Konzert ihm die letzte Ehre erweisen, was den heimlich Zuschauenden übrigens sichtlich tief bewegt.

Beim FESPACO-Festival erhielt "Siméon" zwar nur einen Nebenpreis, doch dürfte ein so fröhlicher Unterhaltungsfilm seinen Weg in die Kinos auch so finden. Hoffentlich bald auch in die deutschen.

Reinhard Kleber

 

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