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Ausgabe 55-3/1993

"Wer solche Filme macht, muss einen langen Atem haben"

Gespräch mit Arend Agthe über seinen neuen Film "Karakum"

(Interview zum Film KARAKUM)

Bio-Filmografie
Arend Agthe, geb. 1949 in Rastede bei Oldenburg, nach dem Abitur Studium der Germanistik und Politik in Marburg und ab 1972 Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Frankfurt am Main, neben dem Studium experimentelle Theater- und Kurzfilmarbeit sowie freie Mitarbeit beim satirischen Magazin "Pardon", 1974 erste Fernsehregie "Die Hau Schau" (Unterhaltungsshow, ZDF), ab 1975 Arbeit als Autor, Regisseur und Kameramann für Kinder- und Jugendsendungen von ARD und ZDF (u. a. "Sesamstraße", "Löwenzahn"). – Filme (Auswahl): "Flussfahrt mit Huhn" (1983), "Küken für Kairo" (Fernsehfilm, 1985), "Der Sommer des Falken" (1987/88)

"Karakum" ist die erste deutsch-turkmenische Koproduktion. Worum geht es in diesem Film?
"Der Film erzählt die Geschichte zweier Kinder, die in der Wüste verloren gehen. Murat und Robert, so heißen die beiden, sind 13 Jahre alt. Robert kommt aus Deutschland; er hat Ferien und möchte seinen Vater besuchen. Der arbeitet als Ingenieur auf den Erdgasfeldern. Ein Lastwagen des Erdgasprojekts holt Robert am Flughafen ab. Der Fahrer des LKWs ist Russe, er heißt Pjotr und lebt schon seit einigen Jahren in Turkmenistan; er ist mit einer Turkmenin verheiratet. Durch ihn kommt Murat auf den Transport. Murat ist Pjotrs Neffe. Pjotr will den Jungen ein Stück mitnehmen, zu einer Wasserstelle am Rande der großen Salzwüste. Dort befindet sich Murats Vater mit einer großen Herde Schafe.
Die beiden Jungen haben also beide dasselbe Motiv: Jeder möchte zu seinem Vater. Doch es kommt nicht dazu: Nach einem Sandsturm bleibt der LKW stecken, der Kühler verliert Wasser. Um nicht untätig herumzusitzen, beschließt Pjotr, nachdem er den Kühler notdürftig abgedichtet hat, Wasser zu holen. Zu Fuß macht er sich auf den Weg zu einem nahen Brunnen. Hier beginnt die eigentliche Dramatik des Films. Pjotr kehrt nicht zum LKW zurück. Die beiden Kinder sitzen am Lastwagen fest, haben zwar Wasser und Lebensmittel für ein paar Tage, sind aber von allem abgeschnitten und ganz auf sich selbst angewiesen."

Wie verständigen sie sich?
"Mit Händen und Füßen. Pantomimisch. Der eine spricht deutsch, der andere russisch bzw. turkmenisch. Darum ging es mir: Zu zeigen, was in einer ausweglosen Situation passiert, in der nicht einmal die Grundvoraussetzung des Miteinander-Sprechens gegeben ist."

Wie werden die Jungen gerettet?
"Es gibt in unserem Film eine große Suchaktion mit Flugzeugen und Hubschraubern. Sie ist angelegt als Parallelhandlung, initiiert von Roberts Vater und der örtlichen Miliz. Aber die Suche geht ins Leere. Pjotr, der Fahrer, ist eine zwielichtige Figur, die in Drogengeschäften verstrickt ist. Er fährt mit seinem LKW nicht die normale Piste, sondern wählt eine Route, die ca. 200 km südlicher verläuft. Deshalb finden die Hubschrauber den LKW erst, als auch die Kinder ihn verlassen haben. Nachdem Robert und Murat vier Tage untätig im Schatten des Lastwagens verbracht haben, werden sie aktiv. Sie basteln sich aus Teilen der Lastwagenladung, aus Bohrgestänge, Laffettenrädern usw. ein fahrbares Rettungsgerät, eine Art Strandsegler. Als Segel dient die Lastwagenplane. Mit diesem Fahrzeug segeln sie über die harten Salzflächen der Karakumwüste und retten nicht nur ihr Leben, sondern auch das von Pjotr."

Das heißt, sie treffen ihn wieder?
"Ja. Pjotr ist bei dem Versuch, Wasser aus einem tiefen Brunnen zu holen, abgestürzt. Er hat sich verletzt. Die Kinder ziehen ihn aus dem Brunnen, verarzten ihn und setzen ihre Reise zu dritt fort."

Zur Vorgeschichte des Films: Wie entstand die Idee?
"1985 bekam 'Flussfahrt mit Huhn' zwei Preise auf dem Moskauer Filmfestival und wurde daraufhin für den sowjetischen Markt eingekauft. Im Frühjahr 1986 wurde ich vom Verband der sowjetischen Filmemacher eingeladen, den Film auf seiner Premierenreise zu begleiten. Ich konnte mir von einer Vorschlagsliste einen Sowjetstaat aussuchen. Ich wählte einen weit entlegenen, den süd-östlichsten: Turkmenistan."

Hatte diese Auswahl etwas mit Karl May und dem 'Wilden Kurdistan' zu tun?
"Ja, vielleicht. Auf jeden Fall war ich neugierig. Das war damals noch die Zeit des 'Betonsozialismus'. Zwar war Gorbatschow schon an der Regierung, aber wer hatte damals schon die Möglichkeit, über die Ukraine hinaus den Süden oder Osten des Landes zu besuchen? Ich sah zum ersten Mal Landschaften, die nichts mit meiner Vorstellung von der Sowjetunion zu tun hatten. Endlose, ockerfarbene Salzwüsten, durch die wilde Kamele ziehen, farbig blühende Steppen, riesige Sanddünen, schneeweißes Faltengebirge ..."

Ist das die Karakum-Wüste?
"Ja, aber 'Karakum' bedeutet mehr als nur Wüste. Es ist die Bezeichnung eines geografischen Gebiets. Es reicht von Afghanistan im Süden über Kirgisien im Osten bis weit nach Kasachstan in den Norden hinein. Landschaftlich umfasst der Begriff Berge, Steppe, Flüsse, sogar landwirtschaftliche Anbaugebiete. Der Großteil besteht allerdings aus Wüste, aus platten, harten Salzflächen: ehemalige Salzseen, die vor Jahrhunderten austrockneten und heute mit einer dünnen Sand- oder Staubschicht überzogen sind. In diesen Gebieten haben wir gedreht."

Und angesichts dieser Salzwüste entstand die Idee?
"Ich lernte bei meinem ersten Besuch Usman Saparow kennen. Er war Regisseur am staatlichen Turkmen-Studio und hatte gerade einen deutschen Filmpreis erhalten, den Großen Preis von Mannheim, für seinen Film 'Ein Mann von acht Jahren'. Mit Usman fuhr ich in der Wüste herum, er zeigte mir Dörfer, Brunnen, alte Ausgrabungsstätten. Er lud mich zu sich nach Hause ein, und wir guckten uns eine Menge turkmenischer Filme an. Viele waren in Farbe auf Cinemascope gedreht. Bombastische Propagandaschinken waren dabei, die von der 'Befreiung' der Turkvölker durch die Sowjets berichteten. Aber auch kleine Sozialstudien, zum Teil selbstbewusst und für die damalige Zeit kritisch.
An einem der letzten Abende – wir waren zu einem Essen in einem Nomadenzelt eingeladen, saßen um ein offenes Feuer, aßen Hammel, tranken Wodka – kam der Vorschlag auf, eine deutsch-turkmenische Koproduktion zu versuchen. Usman und ich haben die Idee gleich ernst genommen. Bevor ich fuhr, einigten wir uns auf eine Grundidee: Ein deutscher und ein turkmenischer Junge gehen in der Wüste verloren. Sie können sich nicht verständigen, denn der eine spricht deutsch und der andere turkmenisch. Ich fuhr zurück nach Hause und machte mich gleich an die Arbeit, erfand zusätzliche Figuren, zusätzliche Schauplätze, Haupt- und Nebenplots. Am Ende hatte ich ein ca. 30-seitiges Treatment. Das schickte ich an Usman. Es vergingen Monate und ich hörte nichts von ihm. Also schickte ich ihm einen zweiten Brief mit der Kopie des ersten. Wieder nichts. So ist ein Jahr vergangen, ohne dass wir miteinander in Kontakt kamen. Später stellte sich heraus, dass die Briefe niemals angekommen sind."

Wie seid Ihr dann in Kontakt gekommen?
"Über einen Kurier. Man konnte ja damals nicht einmal telefonieren. Alles ging nur über Moskau, oder besser: bis Moskau und nicht weiter. Ich gab einem Regisseur aus Kirgisien, den ich auf dem Berliner Festival kennen lernte, einen dritten Brief mit. Der hat Usman erreicht, etwa eineinhalb Jahre nach unserem Treffen. Ich erhielt eine Postkarte von ihm vom finnischen Festival in Oulu. Usman schrieb mir, dass er selber an der Idee weitergearbeitet habe. Und einen Monat später, wieder über Kurier, kam sein Brief an, seine Version der Geschichte."

Konntest Du von Usman Saparows Ideen etwas übernehmen?
"Natürlich. Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits die erste Drehbuchfassung geschrieben und konnte seine Ideen nur partiell einbauen. Ich war es nämlich Leid zu warten. Außerdem wurde mir klar, dass wenn die Sache nicht konkret in die Hand genommen wird, gar nichts passiert. Der Hessische Rundfunk hatte sich als erster für den Stoff interessiert. Er finanzierte das Drehbuch. Dann kam die erste Produktion auf den Plan, die Objektiv-Film GmbH Katherina Trebitsch. Wir gingen in die erste Förderung beim BMI und bekamen prompt die volle Summe. Damit war der erste Grundstein gelegt. Wir fuhren noch im selben Monat nach Moskau und machten dort unter der Vermittlung von 'Sowexport' einen Vor-Vorvertrag mit den Turkmenen. Von da an lief alles offiziell. Eine turkmenische Delegation besuchte Hamburg, eine Hamburger Delegation flog nach Aschchabat. Wir konnten Usman einladen. Er kam im Januar 1991 und wir arbeiteten zusammen die zweite Drehbuchfassung aus."

Wie habt Ihr Euch bei Eurer Drehbucharbeit verständigt?
"Mit einem Dolmetscher. Wir arbeiteten etwa 14 Tage lang, jeden Tag acht Stunden. Wir erzählten uns gegenseitig die Geschichte, feilten an Sequenzen, besprachen Plots. Eine Sekretärin hielt alles in einem Ergebnisprotokoll fest. Das war die Grundlage für meine zweite umfassende Drehbuchbearbeitung. Aber wir hatten nicht immer einen Dolmetscher zur Verfügung. Ich erinnere mich, dass einmal unser Dolmetscher wegen Krankheit ausfiel. An dem Tag verhielten wir uns wie die beiden Kinder im Film. Wir redeten mit Händen und Füßen, machten Zeichnungen oder deuteten Sachen pantomimisch an. Einige Plots, die dabei entstanden, sind später in den Film eingeflossen. Es war wirklich hilfreich, dass unsere Situation beim Ausdenken und Schreiben der Konstellation der beiden Hauptdarsteller im Film gleichkam."

Inzwischen habt ihr "Karakum" gedreht, seid allerdings nicht fertig geworden. Warum kam es zu dem Drehabbruch?
"Ich würde das anders formulieren: nicht Abbruch, sondern Unterbrechung. Tatsächlich zwangen uns mehrere Umstände dazu, abzubrechen. Uns war allerdings klar, dass wir den Film, der zu vier Fünftel abgedreht war, auf jeden Fall zu Ende bringen würden. Schon von Anfang an stand der Film unter einem sehr hohen Realisationsrisiko. Ein Grund übrigens, der die Firma Objektiv-Film dazu bewog, von dem Projekt Abstand zu nehmen und es einem anderen Produzenten – Ottokar Runze – zu überlassen. Ähnliche deutsch-sowjetische Produktionen, wie z. B. der Film von Fleischmann, waren in einem finanziellen Fiasko geendet. Wir waren also gewarnt und deshalb in unserer Vorplanung vorsichtiger. Anders als Fleischmann setzten wir deshalb auf die Autarkie eines komplett deutschen Teams. Die Leistungen unseres turkmenischen Partners bestanden darin, außer dem örtlichen Team und den Schauspielern, nur noch Unterbringungsmöglichkeiten und Transportmittel bereitzustellen.
Dass wir in diesen Bereichen so stark einbrechen würden, war in der Vorbereitungsphase nicht abzusehen. Ich muss sagen, dass die finanziellen Probleme auch für die Turkmenen überraschend kamen. Der Rubelverfall nahm in dem letzten Jahr eine solche Größenordnung an, dass er durch keine staatliche Stelle mehr zu kompensieren war. Er betrug 2600 Prozent und beschleunigte sich im zweiten Halbjahr, also in der Zeit, in der wir drehten. Außerdem setzten Reformen und Umstrukturierungen ein. Unsere Vermittlungsorganisation Sowexport in Moskau hörte auf zu existieren. Das turkmenische Studio wurde privatisiert und in vier Einzelfirmen aufgesplittet, die sich über Nacht von allen staatlichen Subventionen abnabelten. Übrig blieben eine Handvoll Filmfunktionäre, die unseren Koproduktionsvertrag unterschrieben hatten, aber nicht mehr helfen konnten. In dieser Phase etwas einklagen zu wollen, wäre hoffnungslos gewesen. Wir waren auf 'good will' und Improvisation angewiesen. Dass wir überhaupt soweit gekommen sind und vier Fünftel unseres Films abdrehen konnten, war gemessen an den dortigen Verhältnissen eine gewaltige Leistung.
Ich denke, wir hätten den Film schließlich auch noch mit eigener Kraft zu Ende bekommen, wenn wir nicht durch die ständig auftretenden Verzögerungen so spät ins Jahr gerutscht wären. Anfang November setzte, verfrüht für die Region, der Winter ein. Wir hatten Regen, Stürme, Nachtfröste und am Ende sogar Schnee. Als schließlich unser turkmenischer Hauptdarsteller Murad krank wurde, brachen wir ab."

Ab Ende Mai wird nachgedreht. Wie habt Ihr die Finanzierung zustande gebracht?
"Unser Kostenstand bei Drehabbruch ergab, dass wir bis dahin im Rahmen der geplanten Ausgaben geblieben waren. Lediglich der turkmenische Koproduktionsanteil fehlte so gut wie ganz. Wir haben uns ausgerechnet, dass wir, wenn wir den Nachdreh sparsam ansetzen, d.h. mit einem nicht so großen Team anreisen, im Rahmen unserer ursprünglichen Kalkulation bleiben können. Damit war keine klassische Nachförderung nötig, sondern eine Umschichtung im Rahmen der alten Kalkulation."

Wie hoch war das veranschlagte Gesamtbudget?
"Für den gesamten Film 4,1 Millionen Mark. Für den Nachdreh 650.000. Was wir brauchten, war eine westliche Kompensation für den nicht erbrachten Koproduktionsanteil."

War es schwer, die Gremien von der Nachförderung zu überzeugen?
"Es sah am Anfang so aus, als würde es schwer werden, das Gremium zu finden, das bereit ist, den Anfang zu machen. Bei einem Film, der überwiegend aus öffentlichen Geldern finanziert ist, gibt es einfach keinen Hauptverantwortlichen, der sich einer solchen Sache annimmt. Wir haben unzählige Einzelgespräche geführt, Briefe geschrieben und Überzeugungsarbeit geleistet. Schließlich war es der Hamburger Filmfonds, der, nachdem er unseren Rohschnitt gesichtet hatte, die Initialzündung auslöste. Unterstützt wurden wir auch vom Förderverein Deutscher Kinderfilm, dessen Kuratorium wichtige Lobbyarbeit für 'Karakum' leistete. Dass die Filmstiftung NRW nachzog und das Bundesinnenministerium den Rest bewilligte, rettete schließlich unseren Film."

Und wie fühlt man sich nach so einer langen und beschwerlichen Strecke?
"Ich bin zuversichtlich. Zufrieden bin ich erst, wenn der Film abgedreht ist und ich die Gewissheit habe: Alles im Kasten. Aber richtig glücklich bin ich erst, wenn ich merke, der Film ist gut geworden. Wenn er so funktioniert, wie er geplant war und ich sagen kann, dass die Mühe, die Anstrengungen, die Geduld sich gelohnt haben. Eines ist klar: Wer solche Filme macht, muss einfach einen langen Atem haben."

P.S.: In der Zwischenzeit wurden die Dreharbeiten zu "Karakum" abgeschlossen.

Mit Arend Agthe sprach Hans Strobel

 

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