Produktion: Institute for the Intellectual Development of Children and Young Adults, Iran 1992 – Regie und Buch: Abbas Kiarostami – Kamera: Homayun Paevar – Musik: Antonio Vivaldi – Darsteller: Farhad Kheradmand (Vater), Pooya Pievar (Sohn) und die Bewohner von Roudbar und Poshteh – Länge: 91 Min. – Farbe – Verleih: Pandora (35mm) – Vertrieb: Matthias-Film (16mm)
In "Wo ist das Haus meines Freundes?" zeigte uns Abbas Kiarostami eine traditionelle, hermetisch geschlossene Welt von Bauerndörfern. Ein Junge bricht mit dem Gehorsam, um seinen Schulkollegen zu suchen, und er nutzt die Unaufmerksamkeit der Erwachsenen, um dem Freund zu helfen.
Mit seinem Film "Und das Leben geht weiter" kehrt Abbas Kiarostami an den Ort des früheren Films zurück. Die traditionelle, in sich geschlossene Welt hat Risse bekommen, ist zerstört. Ein Erdbeben hat die Dörfer in Trümmer gelegt. Ein Vater und sein Sohn fahren mit dem Auto von Teheran in den Norden des Iran. Im Kino haben sie "Wo ist das Haus meines Freundes?" gesehen; sie hoffen, dass die beiden Jungen, die darin die Hauptrollen spielten, das Erdbeben überlebt haben. Vater und Sohn finden die beiden Jungen nicht, aber sie finden das Leben nach dem Erdbeben, weil sie auf die Menschen eingehen, deren Wege sie kreuzen: Sie finden die unzerstörbare Lebenskraft des Menschen.
In den meisten seiner Kurz- und Langspielfilme erzählt Abbas Kiarostami Geschichten mit Kindern im Mittelpunkt. Keine naiv-harmlosen Kindergeschichten, sondern Parabeln und Lehrstücke, in denen Kinder die Welt der Erwachsenen mit ihren Ideen zu erneuern suchen. Dem Dialogischen zwischen Erwachsenen und Kindern, dieser Begegnung, die der Befragung des Eingeübten und alltäglich Gewordenen dient, schenkt Kiarostami in seinem neuesten Werk erneut große Aufmerksamkeit. Dies vor allem im ersten Teil, in dem wir Vater und Sohn im Auto auf der Fahrt in den Norden des Iran kennen lernen. Da ist der Vater, der nichts weniger als das Alter ego des Filmemachers ist. Mit fürsorglicher Haltung nimmt er seinen Sohn mit auf eine Reise, die nicht zuletzt mit der Tunnelfahrt, die das bisherige Leben des Sohns vom Leben in den zerstörten Dörfern trennt, an ein Initiationsritual erinnert. Und da ist der Sohn, der auf die Umgebung und die Ereignisse, die wie die Landschaft an ihm vorbeiziehen, reagiert und unablässig Fragen stellt. Seine Neugier belegt die Vitalität der jungen Generation, die die Welt in Bewegung halten kann.
Bewegung als Metapher ist ein Grundbegriff nicht nur der Filme von Abbas Kiarostami, sondern des iranischen Kinos. Das Rennen des kleinen Ahmad in "Wo ist das Haus meines Freundes?" ist der zivilisatorischen Entwicklung entsprechend im neuen Film durch das Fahren mit dem Auto abgelöst worden. Die Botschaft bleibt dieselbe: Nicht der Weg zählt, sondern die Idee, die hinter dem Suchen steht. Und vorwärts kommt nur, wer Rückschritte und Umwege in Kauf nimmt. Unzählige durch das Erdbeben verursachte Verkehrsstaus setzt Kiarostami dem Film-Vater in den Weg. Während ein entgegenkommender, in der Autokolonne festsitzender Autofahrer nach den Sünden des Volkes fragt, die den Zorn Gottes und damit das Erdbeben heraufbeschwört haben mögen, bricht der Vater aus der stehenden Masse aus und verlässt den offiziellen Weg, um voranzukommen.
Politisches Kino sei nicht seine Sache, behauptet Abbas Kiarostami immer wieder. Seine Filme aber beweisen mit ihrer parabelhaften Präzision, dass Kiarostami das Leben in seiner Heimat in allen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Schattierungen möglichst authentisch wiedergeben und dazu Stellung beziehen will. Dazu entwirft er Figuren, die sich in bestimmten Situationen bewähren sollen und in deren Charakter und Handeln sich die moralische und politische Instanz des Filmautors spiegelt. Die Nähe zum wirklichen Leben ist zweifelsohne das wesentliche Anliegen in allen seinen Filmen. Dabei geht es ihm nicht um atemberaubende Äußerlichkeiten, die wirkungsvoll herangezoomt werden, sondern um die verborgenen Träume, Kräfte und Zusammenhänge, die das Leben in Bewegung halten. "Und das Leben geht weiter" ist kein Film über die Zerstörungskraft eines Erdbebens, der das Leid der betroffenen Menschen in Schreckensbilder verpackt. Vielmehr zeigt uns Abbas Kiarostami, was die Menschen zwischen den Ruinen tun, wie sie aus dem Wenigen, das ihnen geblieben ist, eine neue Zukunft bauen.
Die Nähe zur Wirklichkeit als Prinzip macht Kiarostamis Inszenierungen glaubwürdig und ermöglicht ihm gar, moralische Anliegen zu transportieren, die das Publikum heute sonst kaum einem Filmautor mehr abnimmt. Denken wir an die mehrmals aufgegriffenen Themen Solidarität und Ehrlichkeit. Kiarostamis "Und das Leben geht weiter", der in Cannes mit dem 'Prix Rossellini' ausgezeichnet wurde, leistet, was in der zeitgenössischen Filmkultur selten ist: Er gibt positive Beispiele, er skizziert sinnstiftende Utopien.
Viele Zuschauer glauben, mit "Und das Leben geht weiter" einen halbdokumentarischen Film gesehen zu haben und fragen sich, welche Szenen oder Episoden wohl inszeniert und welche rein dokumentarisch sind. Die Antwort ist verblüffend: Alles ist Fiktion, alles ist inszeniert. Was in der Filmgeschichte als Gegensatz dargestellt wird, wächst bei Abbas Kiarostami zu einem spannenden Spiel zwischen Sein und Schein, das einen vielschichtigen Einblick in das Innenleben der Figuren und die Sichtweise des Erzählers vermittelt. So baut Kiarostami aus den Erkenntnissen seines analytischen Beobachtens eine Fiktion, mit der er die erkannten Zusammenhänge interpretatorisch überhöht und verdeutlicht: "Wenn die alltäglichen Ereignisse die Wahrheit aussprechen könnten, bräuchte es die Kunst nicht", sagte mir Kiarostami in einem früheren Interview.
Robert Richter
Zu diesem Film siehe auch:
KJK 61-3/1995 - Hintergrund - Abbas Kiarostami
KJK 55-3/1993 - Interview - Ich bediene mich der Wirklichkeit, um mich der menschlichen Vorstellungen anzunähern"
Filmbesprechungen
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Agthe, Arend - "Wer solche Filme macht, muss einen langen Atem haben" Kiarostami, Abbas - Ich bediene mich der Wirklichkeit, um mich der menschlichen Vorstellungen anzunähern" Schindler, Christina - "Sich fügen, dagegen muss ich einfach rebellieren!"