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Ausgabe 32-4/1987

JACOB HINTER DER BLAUEN TÃœR

Produktion: Alpha-Film, München, Bundesrepublik Deutschland 1987 – Drehbuch: Josef Rölz, Sylvia Ulrich, Haro Senft, nach dem gleichnamigen Buch von Peter Härtling – Regie: Haro Senft – Kamera: Wedigo von Schultzendorff – Schnitt: Christine Fritz, Hans-Jürgen Teske – Ton: Robi Güver – Musik: David Knopfler – Darsteller: Thomas Spielberg (Jacob Weiland), Dagmar Deisen (Mia Weiland), Siegfried Kernen (Herr Pflockmann), Marquard Bohm (Shot), Hannelore Hoger (Psychologin), David Knopfler (Musiker) u. a. sowie Schüler der Klassen 6a und 6b der Schule-Sportplatzring, Hamburg – Laufzeit: 96 Min. – Farbe – FSK: ab 6, ffr. – 16mm-Verleih: atlas film + av

Ein Film über Tod und Trauern aus der Perspektive eines Zwölfjährigen von einem bundesdeutschen Regisseur gefilmt. Der Gedanke daran lässt im ersten Moment erschauern! Umso erstaunlicher das Ergebnis: Haro Senfts Verfilmung von Peter Härtlings Kinderbuch "Jacob hinter der blauen Tür". Das sensible, unsentimentale Porträt eines Jungen, dessen Vater bei einem Motorradunfall gestorben ist. Das schreckliche "Ereignis" bleibt ausgespart bis auf eine kurze Sequenz, in der sich ein startendes Motorrad – von Jacob beobachtet – in einen durch die Luft wirbelnden Helm verwandelt. Dieser Helm taucht dann in einer anderen Szene noch einmal auf.

Haro Senft schildert die Folgen des Verlustes eines geliebten Menschen auf die kindliche Psyche. In einem Alter, in dem der Vater die wichtigste Bezugsperson ist. Deshalb kann die Mutter ihrem Sohn nur bedingt helfen. Ganz davon abgesehen, dass sie selbst mit der eigenen Trauer und der Neubestimmung ihres Lebens beschäftigt ist. Durch eine diskrete und detailgenaue Beschreibung des Alltags von Sohn und Mutter macht Haro Senft die Krise sichtbar, ohne in peinlicher und damit peinigender Larmoyanz festzufahren. Ein abschreckendes Beispiel dieser Art lieferte vor einiger Zeit der Sindelfinger Filmemacher Roland Emmerich mit seinem missratenen "Joey". Hier reinkarnierte der verstorbene Vater via Fantasy durchs Kindertelefon.

Wohl wissend vermied Haro Senft deshalb – die in Härtlings Vorlage durchaus vorhandenen – Grenzbereiche zwischen Wunschtraum, Hoffen und Wirklichkeit. Jacobs Vater ist tot. Für den Jungen bleiben die Erinnerung und ein Grab. Aber auch eine verunsicherte Umgebung, die nicht so recht weiß, wie sie mit dem sich trotzig verschließenden Jacob umgehen soll. Sein Schulversagen ist vorprogrammiert, die soziale Isolation ebenfalls. Im Gegensatz zu seiner Mutter ergreift Jacob trotzdem Initiativen, um seine traumatische Situation zu bewältigen, Trauerarbeit zu leisten. Er versucht, die defekte Wasserleitung und ein kaputtes Brotmesser zu reparieren ... und er streicht die Wohnungstür blau. Auf dem Friedhof, Jacob hat das Grab seines Vaters hergerichtet, trifft er den Außenseiter Shot; von Haus aus Musiker, ist dieser Mann – etwa so alt wie Jacobs Vater – ebenfalls durch eine Krise aus der Bahn geworfen worden. Die beiden freunden sich an. Shot gegenüber gelingt es Jacob zum ersten Mal, über den Tod seines Vaters zu sprechen. Jacob lernt aus dieser Begegnung, dass Krisen, Trauer und Leid ein Teil des Lebens sind, jeder aber daraus zu lernen vermag, wie er besser weiterleben kann. Shot arbeitet daran, wieder als Musiker auftreten zu können. Jacob und Shot wollen sich gegenseitig zeigen, wie man einen neuen Anfang bewältigt. Jacob erlebt schließlich, wie er als Kind einem Erwachsenen helfen kann.

Sein "Anliegen" macht Haro Senft mit "Jacob hinter der blauen Tür" in schöner Geradlinigkeit deutlich. Einmal mehr erwies er sich als solider Handwerker, der eine "Geschichte" zu erzählen weiß. Ein subtiler Spannungsbogen macht den Film auch für Kinder in Jacobs Alter interessant und löst bei ihnen Betroffenheit aus. Senfts Beschreibung des Kinder- und Familien-Alltags schafft eine breite Identifikationsebene, macht gewissermaßen "unter der Hand" Tod und Trauer erfahrbar.

Haro Senft berührt damit ein Tabu: Tod und Kinder oder Kinder und Trauer gehören zu jenen psycho-sozialen Randbezirken, die man am liebsten außen vor lässt. Es gehört schon Mut dazu, darüber einen Film, der sich zuvörderst an Kinder wendet, zu machen. Haro Senft vertraute auf seine Profession und Sensibilität im Umgang mit Themen, die gemeinhin als schwierig gelten. Seit den Tagen des "Jungen deutschen Films" (Senft war Mitunterzeichner des "Oberhausener Manifestes" von 1962) hat er kontinuierlich Filme gedreht, die ihrem hohen Anspruch unspektakulär gerecht wurden. Es sind nicht viele Filme. Zwischen seinem vorletzten Spielfilm "Ein Tag mit dem Wind" und "Jacob hinter der blauen Tür" liegen acht Jahre. Das typische Schicksal eines Filmemachers in der Bundesrepublik, der ohne Wenn und Aber Filme für Kinder machen will. Haro Senft nimmt sich Zeit. Seine Ruhe und Gelassenheit spürt der Zuschauer auch bei "Jacob hinter der blauen Tür".

Eine für bundesdeutsche Kinderfilmproduktionen ungewöhnliche Entdeckung ist der Hauptdarsteller Thomas Spielberg, der den Jacob mit Selbstverständlichkeit spielt, d. h. verkörpert. Und Marquart Bohm als heruntergekommener Trompeter Shot. Dieselbe Rolle spielte er auch im jüngsten Werk seines Bruders Hark "Der kleine Staatsanwalt". Seit langem ist Marquart Bohm in "Jacob hinter der blauen Tür" wieder in einer Hauptrolle zu sehen. Nicht zu übersehen dabei, dass das wirkliche Leben mit diesem Schauspieler in den letzten zwanzig Jahren nicht sonderlich gut umgesprungen ist.

"Jacob hinter der blauen Tür" ist ein sympathischer Film von bemerkenswerter Geschlossenheit, dem das Kunststück gelingt, ein Lebensgefühl unprätentiös darzustellen.

Herbert Spaich

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 28-4/1986 - Interview - "Jakob hinter der blauen Tür"

 

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