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Ausgabe 44-4/1990

"Kinder brauchen Identifikationsmöglichkeiten"

Gespräch mit Giacomo Campiotti, Regisseur des Films "Der Frühlingsausflug"

(Interview zum Film DER FRÃœHLINGSAUSFLUG)

KJK: Liegen Ihrem ersten Spielfilm autobiografische Erfahrungen zugrunde?
Giacomo Campiotti: "Die Story ist authentisch. Zwar ist nicht alles mir passiert, aber doch eine ganze Menge. Ich habe versucht, meine Erfahrungen mit denen meines Sohnes zusammenzubringen."

Welcher der drei Jungen des Films steht Ihnen am nächsten?
"Gabriele, das ist der perfekte Junge. Der kleine Schauspieler, der diese Rolle spielt, ist mein Cousin. Im Drehbuch hat Gabriele vier Schwestern, genauso wie mein Cousin. Meine Familie war ein bisschen so wie die katholische Familie von Gabriele im Film, die eine moralische Auffassung vom Leben hat. Das zeigt sich zum Beispiel in der Szene, in der Gabriele mit seiner Mutter zur Bank gehen muss, um von seinen Ersparnissen seine Schulden zu bezahlen."

Ihr Film bietet keine große Action, aber dafür starke emotionale Identifikationsmöglichkeiten. Warum?
"Das war meine Absicht. Kinder brauchen Identifikationsmöglichkeiten, so wie zum Beispiel in den Grimm-Märchen. Kinder mögen diese Geschichten. Ich glaube, dass in einem Kinderfilm die Ereignisse die gleichen sein sollten wie die an anderen Tagen, dann können die Kinder sich sehr gut mit ihnen identifizieren. Ich denke, mein Film hat zwei Ebenen, zuerst eine eher vergnügliche, dann eine schwierigere, bei der die Zuschauer sich auch weniger angenehme Szenen ansehen müssen. In meinem Film gibt es auch einen gewissen sozialen Bezug, zum Beispiel, wenn Gabriele in der Schule sagt: Ja, ich bin derjenige, der die Seife aus dem Fenster geworfen hat. Dann glaubt ihm der rechtschaffene Lehrer nicht, weil er ihn für den perfekten Sohn aus einer angesehenen Familie hält."

Was ist für Sie an einem Film für Kinder besonders wichtig?
"Besonders wichtig ist für mich, dass man Kinder als ganze Menschen ansehen muss, nicht bloß als halbe. Sie sind anders als Erwachsene, aber sie sind nicht weniger. Im Gegenteil: Sie sind mehr als Erwachsene, weil sie etwas besitzen, was die Erwachsenen verloren haben. Zum Beispiel haben Kinder Hunger nach Leben. Morgens wachen wir nur ungern auf. Kinder dagegen werden wach, stehen auf und laufen herum. Kinder haben außerdem eine intellektuelle Kapazität, die viel ungebundener ist als die von Erwachsenen. Deshalb können Kinder praktisch alle Filme, außer Gewaltszenen, verstehen. Allerdings muss der Regisseur eine Sprache finden für die kleinen Zuschauer."

Wie kommt es, dass Sie zu Kindern einen so guten Draht haben?
"Vielleicht weil ich versuche, einen Teil meines kindlichen Wesens in mir zu bewahren. Jeder Mensch hat ein solches Stück Kindheit in sich."

War es schwierig, die kleinen Darsteller für die Kinderrollen zu finden?
"Es war nicht schwierig, aber es ist eine längere Geschichte. Ich besuchte viele Schulen in Norditalien nahe der Schweizer Grenze und sah dort ungefähr 10.000 Kinder. Mit 300 von ihnen machte ich kurze Videos, die ich mir dann zuhause angeschaut habe. Von 50 ausgewählten Kindern nahm ich dann ein längeres Video auf, um mich dann für drei von ihnen zu entscheiden. Ich habe dabei viele Kinder gefunden, die sogar talentierter waren als die drei ausgewählten. Aus verschiedenen Gründen nahm ich sie dennoch nicht. Isacco zum Beispiel ist im richtigen Leben ebenso allein wie der Filmjunge, weil seine Eltern in einer Gaststätte arbeiten. Und der Darsteller des Fiorello stammt aus einer armen Familie wie der Film-Fiorello."

Wie kam Ihr Film bei den Kindern in Italien an?
"Sie mochten den Film. Beim Festival von Giffoni war ich zunächst besorgt, weil in den meisten anderen Filmen so viele Abenteuer gezeigt wurden. Ich hatte ja einen Film ohne Story gemacht. Aber als mein Film gezeigt worden war, stand das erste Kind nach dem Ende der Vorführung auf und sagte: Ich mag den Film, weil es der erste Film war, wo die Kinder wie wir waren, wo sie keine Helden waren."

Wie haben Sie den Film finanziert?
"Ich hatte Glück und fand einen italienischen Produzenten. So konnte ich den Film, den ich von vornherein fürs Kino plante, ohne öffentliche Gelder drehen. Mittlerweile hat eine Fernsehstation von Berlusconi den Film angekauft."

Wird Ihr nächster Film wieder ein Kinderfilm sein?
"Nein. Es wird ein ganz anderer Film ohne kindliche Darsteller sein. Es geht in dem Projekt um einen Mann meines Alters, um seine Probleme mit seiner Frau, seiner Arbeit, seinen Freunden. Aber ich bin sicher, dass ich in der Zukunft wieder mit Kindern arbeiten werde, weil ich gern mit ihnen arbeite. Aber nicht weil sie so nett sind, sondern weil sie mich in meiner Arbeit anregen. Sie geben mir mehr Impulse als Erwachsene."

Mit Giacomo Campiotti sprach Reinhard Kleber

 

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