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Ausgabe 81-1/2000

KIKUJIROS SOMMER

KIKUJIRO NO NATSU

Produktion: Office Kitano Inc.; Japan 1999 – Buch, Regie und Schnitt: Takeshi Kitano – Kamera: Katsumi Yanagishima – Musik: Joe Hisaishi – Darsteller: Beat Takeshi = Takeshi Kitano (Kikujiro), Yusuke Sekiguchi (Masao), Kayoko Kishimoto (Kikujiros Frau), Kazuko Yoshiyuiki (Masaos Großmutter) u. a. – Länge: 121 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – Verleih: Senator – Altersempfehlung: ab 10 J.

Vorwiegend mit gewalttätigen Yakuza-Gangsterfilmen war das japanische Multi-Talent Takeshi Kitano bisher international erfolgreich. Kitano ist jedoch experimentierfreudig und versucht seine Filme niemals nach den üblichen Erwartungshaltungen des Publikums zu drehen. Mit der auch für Kinder und Jugendliche geeigneten, witzig-poetischen Geschichte einer merkwürdigen Freundschaft zwischen einem vom Regisseur selbst gespielten Taugenichts und einem achtjährigen, vaterlosen Jungen ist ihm das ohne Zweifel perfekt gelungen.

Masao wächst in Tokio bei seiner Großmutter auf, denn der Vater ist angeblich bei einem Unfall gestorben und die Mutter weit weg, um für ihn zu arbeiten. Zu Ferienbeginn ist er ganz allein, seine Spielkameraden sind mit ihren Familien alle in die Ferien gefahren. So macht er sich auf den Weg, um seine Mutter zu suchen. Unterwegs begegnet er einer Bekannten der Großmutter, die ihren Freund auffordert, den Jungen zu begleiten. Doch der wortkarge Gauner gehorcht zunächst nur widerstrebend, nimmt seine Aufsichtspflicht nicht wahr und erliegt schließlich seinem Wettfieber bei einem Radrennen. Masao gerät an einen älteren Freier, wird im letzten Moment aber von seinem Begleiter gerettet, der noch einmal allein zur Toilette zurückkehrt, um dem "unheimlichen Fremden" deutlich seine Meinung ins Gesicht zu schreiben.

Nach weiteren Zwischenstationen mit einer Fülle von urkomischen Momenten und Begebenheiten, wie sie so noch nie zu sehen waren und auch niemand erwartet hätte, kommen die Beiden bei der Adresse von Masaos Mutter an. Dort sieht der Taugenichts nur eine junge Frau mit anderem Namen, die gerade ihren Mann und ein kleines Kind verabschiedet. Um den enttäuschten Jungen zu trösten, nötigt er zwei illustren Bikern ein kleines Glöckchen in Form eines Engels ab, das den Jungen später einmal zu seiner Mutter führen soll – und er kümmert sich weiter um Masao und versucht alles, um den ob seiner tristen Lebenssituation zunächst nur traurig blickenden, in sich gekehrten Jungen abzulenken, aufzuheitern und zum Lachen zu bringen. Gemeinsam mit den Bikern und einem umherziehenden Poeten verbringen sie mit kindlichen Spielen ausgefüllte und erlebnisreiche Urlaubstage am Strand, bevor sich ihre Wege am Ende zunächst wieder trennen.

Der anfangs manchmal derbe und irritierende Humor des Films, der sich eher in Bildern und Situationskomik als in Worten und Taten äußert, weicht schließlich der von Masao wie vom Publikum geteilten Erkenntnis, dass sich hinter der rauen Schale der Erwachsenen, insbesondere natürlich von Kikujiro, aufmerksame und liebevolle Menschen verstecken, die dem Jungen das Gefühl von Geborgenheit geben und ihm Spielkamerad wie Vaterersatz sind. Das schräge Road-Movie mit seinen lose aneinander gereihten Sketchen gewinnt an Struktur durch die Form eines mit Überschriften und Fotos versehenen Tagebuches, so wie es Masao über den Sommer mit Kikujiro wohl geführt haben könnte, selbst wenn man ihn nie fotografieren oder schreiben sieht. Dabei vermittelt der Film zunächst, wie man besser nicht mit Kindern umgehen sollte, bis er dann zum idealen Gegenentwurf ausholt und zeigt, wie nahe sich Kikujiro und Masao wirklich sind.

Kikujiros zunächst ruppige, beinahe schon gewalttätige Art im Umgang mit anderen Menschen, die ihrer lakonischen Unverhältnismäßigkeit wegen zahlreiche Lacher produziert, ist bei genauer Betrachtung nie selbstzweckhaft auf den Gag reduziert, sondern immer mit moralischen Überlegungen gekoppelt bzw. ermöglicht erhellende Vergleiche zwischen Absicht und Wirkung. Beispielsweise enthält Kikujiro an einer abgelegenen Busstation Masao eine gestohlene Essensration vor und fällt beim heimlichen Vertilgen dafür "zur Strafe" kopfüber in ein Loch. Und in einer besonders gelungenen Szene, die man sich im Kino unbedingt selbst anschauen sollte, erweist sich deutlich, dass in Kaugummi auf der Straße positionierte Nägel offensichtlich nicht das geeignete Mittel sind, um beim Trampen möglichst schnell Erfolg zu haben. Nun mag nicht jedem diese Art von Humor liegen, doch das ist keine Frage des Alters und schon gar keine der Qualität.

Holger Twele

 

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Ausgabe 81-1/2000

 

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