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Ausgabe 89-1/2002

"Heidi"

(Hintergrund zum Film HEIDI – 2001)

Schweiz / Frankreich 2001 – Regie: Markus Imboden – Länge: 100 Min. – Farbe – Altersempfehlung: ab 8 J.

Dokumentation der Veranstaltung am 01.07.2001 beim 19. Kinderfilmfest München. An der Veranstaltung nahmen insgesamt 94 Besucher teil: 54 Erwachsene, zwei Kinder ab zwölf Jahren, 34 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren und vier Kinder unter sechs Jahren.

Reaktionen der Kinder während der Filmvorführung

Die Kinder verfolgten das Geschehen auf der Leinwand mit großer Aufmerksamkeit. Langeweile wurde zu keiner Zeit gezeigt. Allein all die vielen humorvollen Szenen sorgten für Heiterkeit und somit auch für Konzentration im Zuschauerraum. Die Kinder lachten oft. Der Großvater von Heidi kam allgemein besonders gut an bei den Kindern. Viele hielten sich bei lustigen Szenen die Hand vor den Mund und manch andere Reaktionen zeigten ebenfalls, wie sehr die Kinder in die Geschichte der Heidi vertieft waren. Wenn sie der Handlung manchmal nicht ganz folgen konnten, erkundigten sie sich sofort bei ihren Eltern. Die Trauer und die bedrückende Stimmung, die in dem Film des Öfteren Eingang finden, lösten bei den Kindern ganz besondere Reaktionen aus. Manche Kinder weinten bei bestimmten Szenen sogar (z. B. als die Mutter starb und die Trauer von Heidi gezeigt wurde; als Heidi ihren Großvater verlassen musste). Einige Szenen schienen nahe der Grenze zum Unerträglichen zu verlaufen, zumindest für jüngere Kinder. Doch die Eltern dieser Kinder versuchten in solchen Situationen zu helfen: Bei sehr ergreifenden Szenen beugten sie sich zu ihren Kindern und bemühten sich,das Geschehen zu erklären und damit die Angst zu nehmen (z. B. beim Tod der Mutter).

Erstaunlicherweise waren in einer Schulvorstellung (im Rahmen vom Kinderfilmfest) vor allem die Jungen einer Klasse (etwa elf Jahre alt) besonders begeistert von dem Film. "Heidi" scheint also nicht nur Mädchen zu beeindrucken, sondern auch Jungen finden großen Gefallen an dieser Neuverfilmung.

Verwendbarkeit des Filmes für die Kinderkulturarbeit

Der erste Heidi-Film des neuen Jahrtausends ist sicherlich die radikalste Verfilmung des Klassikers, da er nur frei nach Motiven des Romans von Johanna Spyri gestaltet wurde. Einige Figuren wurden in der neuen Version einfach herausgenommen oder anderweitig ersetzt und viele Einzelheiten auf die heutige Zeit zugeschnitten. Dennoch bleibt die Magie der Geschichte mit ihren Gefühlen von Trauer und dem Wunsch eines Kindes, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, erhalten. "Heidi" ist auch in moderner Fassung ein wahres Sehvergnügen für Jung und Alt.

Der Film ist liebevoll gestaltet. Er enthält viele humorvolle Szenen ohne dabei platt zu wirken. Es dominiert eher der "zärtliche" Witz, der die Zuschauer verzaubert. Werte wie Toleranz, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft werden vermittelt und Normen und Werte transportiert; somit kann Orientierungshilfe geleistet werden. Der Dialog zwischen den Generationen spielt dabei eine große Rolle. Die Mutter-Kind-Beziehung wird auf unterschiedlichste Art und Weise dargestellt. Auf der einen Seite steht die "Freundschaft" zwischen Heidi und ihrer Mutter. Die Mutter ist jung geblieben und interessiert sich für das Leben ihrer Tochter. Es ist großes Vertrauen vorhanden, sie können sich gegenseitig aufeinander verlassen und unterstützen sich. Dieses Verhältnis wirkt schon fast märchenhaft, nicht zuletzt auch durch die filmische Aufbereitung. Auf der anderen Seite jedoch wird auch die Beziehung zwischen Clara und ihrer Mutter dargestellt. Die beiden streiten ständig, die Mutter ist allein erziehend und arbeitet viel, um Clara etwas bieten zu können. Materiell haben sie keine Einschränkungen, die emotionale Seite jedoch verkümmert dabei umso mehr. Das kritische Betrachten des Zeitgeistes ist hier gut gelungen. Die Probleme, die sich daraus ergeben, ebenfalls: Clara lässt niemanden an sich heran. Sie ist eigentlich sehr einsam und buhlt ständig um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Neben all diesen Beziehungsproblemen wird aber auch Liebe und gegenseitiges Verständnis zwischen Mutter und Tochter in einzelnen Szenen ersichtlich, die vorhanden sind, oft jedoch nicht zum Ausdruck gebracht werden können. Zuschauenden Kindern, die in einer ähnlichen Situation leben, kann diese Darstellung Mut geben, denn am Ende des Films wird eine Veränderung deutlich: Claras Mutter versucht,Abstriche ihrer Tochter zuliebe zu machen und die emotionale Beziehung zueinander kann besser ausgebaut werden.

Erwachsene sind in dem Film nicht fehlerfrei gezeichnet. Claras Mutter gibt ihre Schuld an der schlechten Beziehung zu Clara zu und zeigt dabei Gefühle. Auch der Großvater gesteht im Laufe des Filmes seine früheren Fehler ein und kann Schwäche zeigen, indem er seine Ängste äußert. Auch er zeigt nach anfänglichen Schwierigkeiten Gefühle. Die jungen Zuschauer werden so mit den Problemen der Erwachsenen konfrontiert. Der Film greift damit auch kindliche Themen und Fragen aus dem Alltag auf und trägt so zu einem besseren Verständnis der Welt bei. Die jungen Zuschauer bleiben auch von Konflikten nicht verschont. Sowohl zwischen den Erwachsenen als auch den Kinder kommt es zu Streitgesprächen und Problemen. Die Realität wird dargestellt, wobei aber auch Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.

In dem Film wird eine wunderschöne Freundschaft zwischen Junge und Mädchen dargestellt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten (Peter verhält sich sehr cool gegenüber Heidi, wobei sie jedoch ohne weiteres mithalten kann) werden sie gute Freunde, die immer füreinander da sind. Peter unterstützt Heidi bei ihren Problemen soweit er kann und bietet ihr immer seine Hilfe an. Das Vertrauen ist dabei sehr groß.

Mädchen finden in dem Film ein Vorbild, welches ihnen ermöglicht, die traditionelle Geschlechterrolle mit ihren Merkmalen zu hinterfragen. Heidi ist selbstbewusst und selbstständig, sie bewältigt vieles alleine und weiß sich immer zu helfen. Sie muss sich ständig neu orientieren und ist sehr flexibel. Sie geht immer offen auf Fremde zu (Peter, Großvater, Clara), wobei die Initiative stets von ihr ausgeht. Heidi muss sich die Freundschaft immer erst erkämpfen, womit sie aber auch Erfolg hat. Obwohl sie dabei häufig zurückgewiesen wird, gibt sie nicht auf und jeder erhält noch eine Chance. Sie wird als sehr starke Persönlichkeit dargestellt. Zu bemängeln wäre jedoch eventuell, dass Heidi für meinen Geschmack etwas zu viele Probleme bewältigen muss und sich oft etwas zu viel zutraut (z. B. das Mitfahren beim LKW-Fahrer).

Obwohl der Tod der Mutter ziemlich unglaubwürdig inszeniert ist, betrifft dies nicht Heidis Umgang mit der Situation. Deren Trauer um ihre Mutter wird nicht erdrückend dargestellt. Sie bleibt zwar durch den ganzen Film hindurch ein Thema, ist aber nicht belastend. Denn Heidi findet einen Weg mit ihrer Mutter in "Kontakt" zu bleiben. Ferner wird der Tod nur kurz gezeigt, wobei die Kamera hauptsächlich auf Heidi gerichtet bleibt.

Das Happy End wirkt etwas märchenhaft, doch vielleicht ist es nach dem Tod der Mutter, der Trennung vom Großvater und den vielen Abenteuern in Berlin auch notwendig. Die Anspannung der Kinder kann so wieder genommen werden.

Der Film wurde von den Kindern durch die Abstimmung mit der Eintrittskarte wie folgt beurteilt: 82 Prozent der Kinder stimmten für sehr gut, 10 Prozent für gut, 8 Prozent für mittelmäßig und kein einziges Kind stimmte für nicht gefallen. Dieses Ergebnis bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung mehr.

Jutta Baumann

 

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Ausgabe 86-1/2002

 

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