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Ausgabe 62-2/1995

DIE BRÃœDER AUS LUO HE

LUO HE ZHEN DE XION DI

Produktion: China Children's Film Studio, Beijing; VR China 1993 – Regie: Su Zhou – Drehbuch: Huang Yazhiu, Su Zhou – Kamera: Luo Ling – Musik: Lin Weiguang – Darsteller: Xin Hang, Huang Yanging, Yang Ning, Li Bing – Laufzeit: 90 Min. – Farbe – Weltvertrieb: China Film Export & Import Corporation – Altersempfehlung: ab 8 J.

Keke und Liangliang sind zwei neunjährige Jungen aus der chinesischen Provinz. Schon seit langem sind sie enge Freunde, doch nun wird ihre Freundschaft auf die Probe gestellt: Denn es stellt sich heraus, dass sie nach der Geburt vertauscht wurden und Liangliang der biologische Sohn des armen verwitweten Lehrers und Keke der der reicheren Fischer ist, die vor der Stadt an einem See leben. Ahnenkult und Tradition gebieten, dass die Kinder nun ihren "richtigen" Familien zurückgegeben werden; eine Lösung, mit der jedoch keiner der Beteiligten (ob Kind oder Erwachsener) glücklich werden kann. Eine schwere Krankheit des kleinen Keke erzwingt seinen Transport nach Shanghai, wo der Lehrer einen erneuten Bluttest zur Überprüfung des ersten macht. Bis dahin kommen die zwei wieder in ihre richtigen Familien zurück. Doch dann bestätigt der zweite Test das erste Ergebnis. Und nun sollen Keke und Liangliang erneut Heim und Familie wechseln. Doch wundersamerweise siegen am Ende Vernunft und elterliche Liebe über Tradition und ehernen Ahnenkult.

Das Spielfilmdebüt des Filmemachers Su bearbeitet mit den Mitteln des klassischen chinesischen Melodrams ein auch hierzulande brisantes Thema, dessen Bedeutung in seiner Heimat noch durch den nach wie vor präsenten Ahnenkult verstärkt wird; nämlich den Konflikt zwischen biologischer und realer Elternschaft. Und so ist denn auch das etwas unvermittelte (und für ein chinesisches Melodram typisch tränenreiche) Happy End des Films eher ein Aufruf des Filmemachers denn Abbildung der Realität. Su plädiert für das Konzept der wirklichen Familie, bei der man aufwächst, gegen das Konzept der biologischen Familie, nachdem allein Blutsbande familiäre Bindungen erzeugen: Lasst Herz und Verstand zum Wohle der Kinder (und eurem eigenen) über Tradition und Ahnenverehrung siegen! Denn die Tradition hält die Leute gefangen und dient nicht ihrem Glück, sondern einem abstrakten (und überkommenen) Ideal. Die eindringliche Inszenierung verdeutlicht das mehr als einmal auch visuell: Liangliang nimmt Abschied von seinen Eltern, steht allein unter weitem Himmel, im Hintergrund sehen wir die Fischer hinter Bambus; eingesperrt im Gefängnis der Tradition.

Und ganz nebenbei zeigt Su auch, warum diese Tradition vergehen sollte, ist das doch nicht die einzige Umwälzung in Chinas sozialem System, wie er es sieht: Denn hier ist der einstmals angesehene (und auch sozial höhergestellte) Lehrer aus der Stadt ein armer Mann, der sich so gerade durchschlägt, derweil die ländlichen Fischer reich geworden sind; eine Umkehrung einer Rangordnung, die in China über Jahrtausende Gültigkeit hatte. Su schildert eine Gesellschaft im Umbruch, in der das Neue schon Einzug gehalten hat, aber Überreste des Alten noch (machtvoll) präsent sind: Deutlich wird das in der Szene, als die Fischer Keke mithilfe traditioneller Riten zu heilen versuchen und sein Vater trotz schwerer Krankheit aufbricht, um ihm die rettende Medizin zu bringen; eine Hilfe, die die traditionsverbundenen Menschen zunächst ablehnen. Erst die Nachbarn können sie dazu überreden, das Angebot des Lehrers doch anzunehmen; das Umfeld als soziales Korrektiv.

Sus Debüt ist ein höchst professioneller, konsequent aus der Sicht der Kinder erzählter Film, dessen traumhafte Landschaftsbilder wesentlich zur Atmosphäre beitragen und der den Kindern zudem einen Einblick in chinesischen Alltag und Denkweise abseits der großen prosperierenden Städte und Sonderwirtschaftszonen ermöglicht. Ein Film, dessen Thema für alle von Interesse ist: ob klein oder groß, Asiate oder Europäer. Insofern war die Auszeichnung beim Frankfurter Kinderfilmfestival (sowohl durch die Festival- als auch die CIFEJ-Jury) 1994 nur konsequent.

Lutz Gräfe

 

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Ausgabe 62-2/1995

 

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