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Ausgabe 65-1/1996

"Für mich ist wichtig, dass Kinder mit Respekt betrachtet werden"

Gespräch mit Maria Peters, Regisseurin des Films "Taschendieb"

(Interview zum Film TASCHENDIEB)

"Taschendieb", der erste Spielfilm, für den Maria Peters das Drehbuch schrieb und Regie führte, erlebte im Februar 1995 beim Kinderfilmfest Berlin seine deutsche Erstaufführung und erhielt dort den mit 5000 Mark dotierten Preis der Berliner Kinderjury. Dass der Film weltweit verstanden und honoriert wird, beweist auch der Preis der indischen Kinderjury beim Internationalen Kinder- und Jugendfilmfestival in Hyderabad im November 1995. Das nachfolgende Gespräch führte die KJK-Redaktion mit Maria Peters in München, wo der Film im Rahmen vom Kinderfilmfest / Filmfest München 1995 mit Erfolg gezeigt wurde.

KJK: Wie sind Ihre Erfahrungen mit "Taschendieb" hier, wie schätzen Sie die Wirkung des Films auf die deutschen Kinder ein?
Maria Peters: "Ich habe festgestellt, dass die Kinder auf den Film sehr stark reagieren und denke, dass sie die Geschichte verstehen und vor allem auf Alex, die Hauptfigur, reagieren, weil sie erkennen, dass Alex ein Geheimnis hat. Da sie selbst auch Geheimnisse haben, identifizieren sie sich mit ihm.

Bemerkten Sie Unterschiede in der Reaktion der Kinder zwischen München und Berlin?
"Ich denke, dass in Berlin – was ich auch hörte von den Eltern – die Kriminalität ein Problem ist. Das scheint in München nicht so der Fall zu sein. Zum Beispiel stellte ich hier bei der gestrigen Filmvorführung fest, dass die Zuschauer, als Alex zum ersten Mal einer Frau die Handtasche stiehlt, schon vorher laut im Kino riefen 'nein, nein, nicht tun'. Und ich denke, dass die Reaktion hier so stark auf diese Szene ist, weil in der Umgebung der Kinder weniger Kriminalität herrscht und sie weniger damit konfrontiert sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber das Problem scheint hier nicht so zugespitzt zu sein."

Wie kamen Sie zu dieser Geschichte von dem Jungen, der so in die Abhängigkeit von zwei Jugendlichen gerät, dass er schließlich zum Taschendieb wird?
"Das ist ein Buch von Mieke van Hooft. Die Schriftstellerin, die selbst zwei Kinder hat, ist sehr populär und erfolgreich und macht auch Lesungen in den Schulen. Sie gewann 1990 für dieses Buch den Kinderbuchpreis in den Niederlanden. Die Geschichte war klar, nur die Brüder hatten keinen Hintergrund. Sie waren zwar in der Geschichte, auch die Erpressung, aber nicht das soziale Milieu, aus dem sie kommen. Das Buch ist in der Form eines 'Ich-Erzählers' geschrieben: Alex erzählt alles aus seiner Perspektive. Die Brüder kommen also nur vor, wenn er ihnen begegnet, aber er weiß nicht, woher die kommen."

Was war Ihr Anliegen, diesen Film zu machen?
"Meiner Ansicht nach ist eines der größten Probleme, wenn ein Kind nicht imstande ist, auszusprechen, was es bewegt und sich dadurch unglücklich fühlt. Das kann ein großes Problem für das Kind genauso wie für die Eltern sein. Das war mein Motiv für diesen Film. Das Gefühl, nicht zu einer Person gehen zu können, alles für sich behalten zu müssen, hier zum Beispiel die Erpressung zum Diebstahl, und dadurch immer mehr in Schwierigkeiten zu kommen. Mein Interesse an der Geschichte ist: Du musst deine Probleme teilen, Leute können dir heraushelfen. Ich hoffe es! Wir haben dafür das Sprichwort: Geteiltes Leid ist halbes Leid."

Warum haben Sie den Prozess, in dem der Junge immer mehr in die Abhängigkeit gerät, so lange ausgedehnt?
"Das ist sehr interessant. Als ich jung war, sah ich einen Film, 'Straw Dogs' ('Wer Gewalt sät') von Sam Peckinpah mit Dustin Hoffman, der hat mich sehr beeindruckt. In diesem Film hatte ich dasselbe Gefühl zur Figur des Dustin Hoffman und hoffte immer, dass er etwas unternimmt, um der Unehrlichkeit ein Ende zu setzen. Dieses Gefühl war sehr lang, und ich wollte dasselbe Gefühl für Alex: Ihm geht es immer schlechter, aber er kann zu niemandem gehen, nicht zu seiner Mutter, nicht zu seinem Vater, alle Wege zu einer Lösung sind versperrt. Und das Ende nimmt er selber in die Hand. Das war es, was ich auch schon im Buch sah. Die Wende für Alex liegt in der Situation, als er der blinden Frau das Geld abnimmt, obwohl die beiden Erpresser nicht dabei sind – in seinem Kopf schon, aber nicht tatsächlich – und er schon so weit ist, dass er selbst zu stehlen beginnt. Das muss ein Drehpunkt für ihn sein."

Das Spiel von Olivier Tuinier als Alex spielt auch eine wesentliche Rolle für den Eindruck, den der "Taschendieb" hinterlässt.
"Ja, Olivier ist ein netter, sensibler Junge, der sehr gut spielen kann; du kannst schon an seinem Gesicht sehen, was in seinem Kopf vorgeht. Er hat ein ausdrucksstarkes Gesicht. Kinder erkennen das sofort und sie haben hier ganz stark darauf reagiert."

Wo lernten Sie ihn kennen?
"Ich sah den Film 'Das Taschenmesser' (dt. Erstaufführung Berlin 1992; Filmkritik in KJK Nr. 50, Anm. d. Red.) und noch einen anderen Film 'Der kleine blonde Tod', einen Erwachsenenfilm, in dem Olivier Tuinier auch mitspielte und dachte mir, wie alt ist der eigentlich, vielleicht zehn oder elf, und im Film soll er – wie im Buch – zwölf sein. Ich hörte aber, dass er zwölf ist, und nur so klein wegen einer zeitweiligen Wachstumsstörung. Er ist also zwölf, in der Geschichte und in Wirklichkeit, und er ist klein für sein Alter, aber ich dachte, das macht nichts, weil er kann auch nicht groß und dick sein, sonst kann man nicht glauben, dass ihn die großen Jungen erpressen."

Haben Sie Probeaufnahmen für Ihren Film mit ihm gemacht?
"Nein, ich hatte keine Probeaufnahmen mit ihm. Ich schickte ihm das Drehbuch, er las es und sagte, er möchte gerne die Rolle spielen. Er ist als Darsteller öfter beschäftigt, aber er kann nur in einem Film pro Jahr spielen. Das ist festgelegt von der Arbeitsinspektion für Kinder: einen Film pro Jahr und 25 Arbeitstage ab zwölf Jahre. Für seine Rolle habe ich keinen anderen angeschaut. Die anderen beiden Jungen habe ich mit Probeaufnahmen gesucht. Das war aber erst nicht so viel. Ich habe herumgefragt; da viele irgendwie beim Film arbeiten, kennt man dann immer noch welche. Und der Junge für den Darsteller des Evert (Micha Hulshof) geht in eine Vorbereitungsklasse für die Schauspielschule, dort habe ich ein paar Probeaufnahmen gemacht und war sehr zufrieden. Die Eltern vom Darsteller des Lucas (Aus Greidanus), dem anderen Jugendlichen, sind Schauspieler, und er selbst geht auf eine Schauspielschule. Er ist neunzehn, sieht aber wie sechzehn aus, er hat auch eine Probeaufnahme gemacht und war ebenfalls gut. Erst dachte ich zwar, ein blonder und ein dunkler Junge können keine Brüder sein, doch dann habe ich meine eigenen Kinder angeschaut, meine Tochter ist auch blond mit blauen Augen und mein Sohn ist dunkelhaarig ..."

Wie haben Sie mit Olivier Tuinier gearbeitet, liest er das Drehbuch, improvisiert er?
"Es ist sehr einfach mit ihm zu arbeiten, denn er ist wirklich ein Naturtalent. Er lernt nicht den ganzen Text vorher, sondern immer nur den Teil für den jeweiligen Drehtag. Manchmal ist das etwas mehr Text, aber er lernt sehr, sehr schnell. So ist die Arbeit nicht so schwer für ihn. Wichtig ist nur, mit ihm kurz zuvor die Szenen zu proben. Und deshalb dachte ich, dass es sehr gut ist, wenn er die Darsteller vorher kennen lernt, dass er ein Gefühl für sie bekommt. Nicht, dass ich ihn für die Szene zum Beispiel mit der Mutter brauche und es ist das erste Mal, dass sie sich treffen. So kam er nach der Schule, um vier, fünf Uhr für ein, zwei Stunden, um Szenen durchzuspielen, ohne Kamera. Das war sehr nützlich, denn nachher am Set wusste ich, dass er es gut spielen konnte, und dass er bestimmte Dinge besser spielen konnte, in Erinnerung der Proben konnte ich ihm entsprechende Anweisungen geben. Denn ohne diese Proben wäre es zu viel Druck und Aufregung und ich selbst wäre nervös. So war es sehr beruhigend für mich, dass ich geprobt hatte mit ihm und all den Kindern und wusste, sie können es spielen. Wir begannen täglich um 9 Uhr morgens und wir arbeiteten immer zuerst an den Szenen mit ihm. Er ist sehr ernsthaft und arbeitet professionell. Aber Schauspieler will er nicht werden, sagt er."

Ist dieser Film Ihr erster mit Kindern?
"Ja. Ich machte zwar meinen Abschlussfilm mit dem Titel 'Alle Vögel fliegen' bei der Niederländischen Filmakademie in Amsterdam 1983 auch mit jungen Leuten, Sechzehn-/Siebzehnjährigen, aber nicht mit Kindern."

Wie haben Sie den Film produziert?
"Ich habe meine eigene Filmproduktion, Shooting Star Filmcompany, mit zwei anderen Leuten, einer ist mein Mann, seit 1987; wir machten Spielfilme für andere Produktionsfirmen. Ich las dieses Buch von Mieke van Hooft, denn ich wollte selbst einen Film machen und weil ich in der Zeitung gelesen hatte, dass dies eine gute Geschichte sei. Dann telefonierte ich mit dem Verlag wegen der Rechte. Sie stimmten zu, vertrauten mir und meinten schon, das könnte ein Erfolg werden. Das Drehbuch habe ich allein geschrieben, aber ich habe immer, wenn es fertig war, eine Version zu der Autorin geschickt und sie hat die Kommentare dazu gegeben und auch gesagt, was sie nicht schön findet, das habe ich dann geändert. Einige Szenen aus dem Buch habe ich auch weggelassen. Zwei Jahre habe ich – mit Unterbrechungen – an dem Drehbuch gearbeitet. Und dann starteten wir mit staatlichen Filmfördergeldern die Produktion."

Wie hoch war die staatliche Beteiligung an der Produktion?
"550.000 Gulden, dazu kamen eigene Mittel von 70.000 Gulden sowie Geld von 'Tros Television', einer halböffentlichen TV-Station, und von zwei Stiftungen. In Holland gibt es schon neun private TV-Stationen, aber sie senden an verschiedenen Tagen. Sie haben alle Mitglieder und je nach Größe der Mitgliedschaft können sie ausstrahlen."

Kinderfilme zu machen, ist immer ein Problem, weil die Amortisation länger dauert. Welche Unterstützung brauchen Sie dafür?
"Ich brauche immer Geld vom Staat und auch vom Fernsehen. Wenn ein Film ins Kino geht, kann er fünf Monate laufen oder – bei einem Flop – drei Wochen. Mein Kinderfilm läuft schon drei Monate gut in Amsterdam, Den Haag, Groningen, Leuwarden, Eindhoven, in den großen Städten, und zwar in Matinees am Mittwoch, Samstag und Sonntag. Wir haben es auch auf der 19-Uhr-Schiene versucht, doch dafür gibt es zu wenige Leute."

Wie steht es um das Ansehen von Kinderfilmen in den Niederlanden?
"Bei uns gibt es wenig Zuschauer für niederländische Filme überhaupt. Sie sind mal eine Woche zu sehen, dann werden wieder amerikanische Filme ins Programm genommen und die anderen abgesetzt. Mein Film läuft nun schon drei Monate, und das ist schon sehr erfolgreich. Aber zum Beispiel der amerikanische Film '101 Dalmatiner' hat in Amsterdam schon 5 Kinosäle, und meiner nur einen in einem kleinen Theater, und das ist eine schlechte Sache und sehr schade. Das kann man auch nicht ändern, es geht eben nur um Geld. Zu Disney-Filmen kommen immer viele Leute, denn sie machen eine große Kampagne, in jedem Geschäft kann man Dalmatiner-Sachen kaufen, damit machen die ihre Sachen bekannt. Aber in Berlin beim Kinderfilmfest kam ein Mädchen zu mir und sagte, dass sie schon dreimal beim Kinderfilmfest den Film 'Taschen-Dieb" gesehen hat und ihn immer wieder ansehen könnte. Das habe ich nicht gedacht, dass ein Film mehr als einmal gesehen werden möchte, und das hat mich sehr gefreut."

Welche Kriterien sind für Sie wichtig bei einem Film für Kinder?
"Für mich ist wichtig, dass Kinder mit Respekt betrachtet werden, dass ihre eigene Sicht auf die Welt respektiert wird, dass sie ihren eigenen Weg gehen. Eine Filmgeschichte soll aus der Sicht der Kinder erzählt werden, die Kinder sollen sich damit identifizieren können. Und ich denke, wenn du Kinder ernst nimmst, machst du Filme wie den 'Taschendieb'. Natürlich kann man auch Fantasyfilme machen, das ist nett, ein Märchen, Kindern gefällt das, sie haben Spaß daran. Dagegen ist 'Taschendieb' realistischer, und ich denke, es sollte mehr Filme wie diesen geben. Aber: mit Hoffnung darin. Ich bin nicht einverstanden mit Filmen, die ein sehr trauriges, hoffnungsloses Ende oder eine schlimme Aussage haben. Mein Film ist auch traurig, aber er gibt ein Gefühl von Hoffnung, der Gute gewinnt, die schlechten Jungen werden eingesperrt, und Alex kommt als ein besserer Mensch heraus, ist stärker geworden. Er hat für sich selbst gekämpft, hat sich durchgekämpft. Das ist sehr wichtig: Hoffnung am Ende des Films und nicht, dass es deprimierend endet."

Mit Maria Peters sprachen Christel und Hans Strobel

 

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