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Ausgabe 97-1/2004

BROKEN WINGS

KNAFAYIM SHVUROT

Produktion: Norma Productions Ltd. / Israel Film Fund; Israel 2002 – Regie und Drehbuch: Nir Bergman – Kamera: Valentin Belogonov – Schnitt: Einat Glaser-Zarhin – Musik: Avi Belleli – Darsteller: Orly Silbershatz Banai (Dafna Ulman), Maya Maron (Maya Ulman), Nitai Gaviratz (Yair Ulman), Vladimir Friedman (Dr. Valentin Goldman) – Laufzeit: 87 Minuten – Verleih: Alamode (O.m.U.) – Altersempfehlung: ab 12 J.

Israelische Filme kommen nicht gerade häufig in unsere Kinos und wenn, dann handeln sie fast immer von dem Thema, an das wir als erstes denken, wenn wir Israel hören: dem Nahostkonflikt. Doch viele gerade jüngere israelische Filmemacher sind es verständlicherweise leid, immer nur eine Art Botschafter ihres Landes in Sachen Palästina vs. Israel zu sein. In den letzten Jahren gab und gibt es eine starke Tendenz, ganz andere Geschichten zu erzählen: Geschichten aus dem Alltag dieses Landes, von dem wir genau genommen außer den sattsam bekannten Schlagzeilen kaum etwas mitbekommen. Zu dieser Gruppe zählt auch Nir Bergmans Spielfilmdebüt, in dem der Nahostkonflikt noch nicht mal am Rande vorkommt.

Erzählt wird die Geschichte der Familie Ulman, die den plötzlichen Tod des Vaters und Ehemannes nicht wirklich verwunden hat. Während die Mutter sich dermaßen in die Arbeit stürzt, dass sie – ohne darüber nachzudenken – die ganze Verantwortung für die Familie ihrer 17-jährigen Tochter Maya aufbürdet, verweigert sich deren jüngerer Bruder Yair konsequent allen Anforderungen. Anstatt in die Schule zu gehen verteilt er lieber (als Maus verkleidet) Flugblätter in der U-Bahn. Und überhaupt ist ihm das Leben nichts mehr wert: "Wir sind alle nur Staubkörner ohne Bedeutung in einem leeren Universum." Der zehnjährige Ido versucht sich an – im wörtlichen Sinne – halsbrecherischen Sprüngen in leere Schwimmbecken und die fünfjährige Bar fühlt sich von Gott und aller Welt verlassen. So kann es natürlich nicht ewig weitergehen, zumal vor allem Maya eigentlich lieber etwas ganz anderes machen würde: Sie wäre gerne Popsängerin, aber jedes Mal, wenn sie gerade einen Auftritt hat, kommt ein Anruf ihrer Mutter, dass sie zu Hause gebraucht wird. Lange Zeit spielt sie auch mit, bis sie in einer Kurzschlussreaktion von zu Hause abhaut. Auch die anderen Mitglieder der Familie suchen ihren Weg raus aus dieser Bedrängnis. Ido springt sich fast zu Tode und Yair hat eine lange Unterhaltung (samt anschließender Liebesnacht) mit einer Mitschülerin, was sein nihilistisches Weltbild entschieden ins Wanken bringt. Und selbst die Mutter wirft ein Auge auf den netten Arzt, der ihren Sohn behandelt und ihr vorher schon ein paar Mal aus der Klemme half, als ihre alte Rostlaube mal wieder den Geist aufgab. Am Ende steht ein recht unbeschwerter Neuanfang aller Ulmans ...

Bergman gelang ein zuweilen intensives Drama über die unterschiedlichen Wege aus einer Familienkrise, die letztlich jeder der Beteiligten für sich selber finden muss. Dabei ist der Film – trotz des auf den ersten Blick sehr versöhnlich wirkenden Endes – fernab jeder Hollywood-Familienduseligkeit. Denn hier ist die Familie eben kein Hort der Geborgenheit, in dem alle an einem Strang ziehen. Ganz im Gegenteil: Um sich aus der Krise zu befreien, muss jeder erst mal für sich selber seinen Weg finden und vielleicht gibt's dann ja am Schluss eine neue Gemeinsamkeit. Dabei überrascht Bergman bei aller dem Thema innewohnenden Traurigkeit immer wieder mit Momenten surrealer Komik und zarter Poesie: Wenn Yair und seine Schulkameradin nachts nackt am offenen Klassenfenster sitzen und über die Welt philosophieren, gelingt es ihm sogar, beides in einem Moment zu vereinen. Zwar kommen die kleineren Kinder hier ein wenig zu kurz, sie akzentuieren aber die Situation und Stimmungslage der Älteren und fügen sich perfekt in dieses spielfreudige Ensemble ein, das wesentlich zur intensiven Wirkung des Films beiträgt.

Unter souveräner Verwendung filmischer Mittel entwirft Bergman das Panorama einer Familie der unteren Mittelschicht, die unverschuldet am Abgrund steht und sich dennoch am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zieht. Kein Wunder, dass der Film in Israel ein großer Erfolg bei Kritik und Publikum gleichermaßen war.

Lutz Gräfe

 

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