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Ausgabe 97-1/2004

NOI ALBINOI

Produktion: Zik Zak Filmworks / Essential Filmproduktion / The Bureau / M&M Productions; Island / Dänemark / Deutschland 2002 – Regie und Buch: Dagur Kári – Kamera: Rasmus Videbaek – Schnitt: Daniel Dencik – Musik: slowblow – Darsteller: Tómas Lemarquis (Nói), Thröstur Leó Gunnarsson (Kiddi Beikon), Elin Hansdóttir (Iris), Anna Fridriksdóttir (Lina), Hjalti Rögnvaldsson (Oskar), Pétur Einarsson (Prestur) u. a. – Länge: 91 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Neue Visionen – Altersempfehlung: ab 14 J.

Nói ist siebzehn, sehr mager und blass, und gemeinsam mit seinem versoffenen Vater und der resoluten Großmutter lebt er irgendwo in der isländischen Provinz. Selbst wenn er nur im Bett liegt, in die Luft guckt und nachdenkt, wirkt er noch beweglicher als manche geschäftigen, aber im Grunde erstarrten Leute um ihn herum. Viele im Städtchen halten ihn für verrückt, andere für überheblich und anmaßend. Für ein paar seiner Mitbewohner ist er jedoch ein Wunderkind. Den "Magischen Würfel" vom Schreibtisch eines Psychologen bringt Nói blitzschnell in die richtige Ordnung. Dagegen gibt ihm das, was die Schule zu bieten hat, überhaupt nichts mehr. Auf dem Gipfel seines Desinteresses schickt er sogar einen Kassettenrekorder als "Stellvertreter" in den Unterricht. Das reicht, meint Nói, und widmet sich lieber der schönen Iris, der Tochter des Buchhändlers, mit der er von wärmeren Palmengegenden träumt.

"Nói Albinói", das Kinodebüt des 1973 geborenen isländischen Regisseurs Dagur Kári, feiert das Unangepasste, Absonderliche. Und eine Haltung zum Leben, die davon ausgeht, dass man lernen muss, das, was kommt, auch so zu nehmen, wie es kommt, und dennoch seine Individualität und seine Träume zu bewahren. Als Pate für diese Philosophie steht im Film kein Geringerer als Kierkegaard, aus dessen Werken der Buchhändler einmal den Satz zitiert: "Lache über die Dummheit oder nicht, heirate oder nicht, hänge dich auf oder nicht. Du wirst beides bereuen." Eine Sentenz, die den "Außenseiter" Nói mit seinen niemals genau definierten Sehnsüchten nach einem Ausbruch aus der alltäglichen Enge wenigstens in Ansätzen "erklärbar" macht.

Den Alltag in dem von eisblauen Bergen und grünen Wassern umgebenen Ort schildert Kári komisch, lakonisch und pointiert. Das beginnt schon mit der morgendlichen Anfangsszene, in der die Großmutter ihren Enkel wecken will und das nicht anders kann, als mit der Schrotflinte aus dem Fenster zu ballern. Abgrundtief ist der Widerspruch zwischen dem äußeren Anblick des trunksüchtigen Vaters und dessen Leitsätzen wie: "Pünktlichkeit ist der Schlüssel zum Tempel der Ordnung." Skurril der Französischlehrer, der die fremde Sprache an seine Schüler zu bringen hofft, indem er Mayonnaise anrührt und dabei die Zutaten erklärt: ein Versuch, der im Chaos endet.

Nóis Alltag wird im Film auf legendenhafte Weise zelebriert. Dabei spielt Kári schon lange vor dem allegorischen Finale mit der Aura des Geheimnisvollen, nicht auf den ersten Blick Entschlüsselbaren. "Ich liebe es", so sagte er in einem Interview, "in einer unterbewussten Art mit Mythen zu arbeiten. Ich möchte, dass das Publikum eine emotionale Verbindung zu etwas Mythischem und Universellem empfindet. Wenn ihnen das aber bewusst wird, während sie den Film schauen, habe ich versagt." So lässt auch das "grausame" Finale, der Tod überall, der den Jungen plötzlich umfängt, ausreichend Freiraum für Interpretationen. Vermutlich will Kári seine Zuschauer darauf bringen, dass die kleinen Verweigerungen, die nur gedachten Ausbrüche nicht mehr genügen, wenn man neue Ufer erreichen will. Erst der endgültige und mitunter schmerzvolle Abschied von der Jugend eröffnet die Chance, Tore zu unbekannten Welten aufzustoßen.

"Nói Albinói" erweist sich als vielschichtige, souverän zwischen Komischem und Tragischem balancierende Parabel. Keine Frage, dass das isländische Ambiente für poetische Landschaftsaufnahmen genutzt wird. Mindestens genau so einprägsam sind auch die klugen, schelmischen, fragenden Augen des Hauptdarstellers Tómas Lemarquis, die auf einen außergewöhnlich lebendigen Geist hinweisen.

Ralf Schenk

 

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