Produktion: Studio Babelsberg, Bundesrepublik Deutschland 1993 – Regie: Rainer Simon – Buch: Rainer Simon, Günter Saalmann – Kamera: Sebastian Richter – Schnitt: Helga Gentz – Musik: Friedrich Schenker, Gruppe Saraba, Klaus Knapp – Darsteller: Jens Schumann (Umberto), Macca Malik (Bianca), Renate Krößner (Mutter Ilona), Meret Becker (Bibi), Domenica (Frau Betty) u. a. – Länge: 93 Min. – Farbe – FSK: ab 16 J. – Verleih – Kontakt: Schokofilm Köln
Umberto, 16, lebt mit seiner kranken und alkoholsüchtigen Mutter Ilona und seiner fünfjährigen dunkelhäutigen Halbschwester Bianca in einem kleinen Ort in Sachsen. Umberto weiß von seinem Vater nicht viel; er soll aus dem Zirkusmilieu stammen und womöglich vom Seil gestürzt sein. Biancas Vater ist zurück nach Afrika. Daheim herrscht Chaos. Ilona wechselt die Männer nach Belieben. Sie zieht nach Hamburg, um dort neu anzufangen. Umberto, ein unangepasster und mitunter provozierender Typ, will noch weiter weg. Am liebsten nach Afrika zu Biancas Vater. Der Abschied von seinem Heimatort fällt ihm nicht schwer. Die Beziehung zu Aleksandra, der Tochter eines Lehrers, bedeutet ihm nicht sehr viel. In Hamburg kümmert sich die Nachbarin Betty, eine Hure, um die Neuankömmlinge. Bettys Tochter Tschibo, wie Bianca eine Mulattin, findet Umberto attraktiv; die beiden Außenseiter nähern sich einander an. Er findet vorübergehend Arbeit in einer Autolackiererei, doch als "Ossi" wird er unter Tarif bezahlt und entsprechend behandelt. Seine Sehnsucht nach Afrika – nicht mehr länger nur ein imaginäres Reiseziel – wird stärker und lässt ihn nicht mehr los.
Umberto wird allerdings von den familiären Problemen eingeholt: Seine Mutter besorgt sich ihr Geld durch Prostitution. Als sie in ein Krankenhaus eingewiesen wird und Umberto entdeckt, dass auch Tschibo auf den Strich geht, wirft es ihn um. Der Trost im Bett von Tschibos Mutter Betty reicht nur für eine Nacht. Am darauf folgenden Tag klaut Umberto ein Motorrad und haut mit Bianca ab – irgendwie will er nach Afrika kommen. Die Reise wird schon nach kurzer Zeit von der Polizei gestoppt. Bianca und Umberto können gerade noch peinlichen Verhören entkommen. Sie treffen auf den Mannschaftsbus von Bayer Leverkusen, der zum Pokalfinale nach Berlin unterwegs ist. Ulf Kirsten, wie Umberto ein Ossi, hilft seinem Landsmann weiter. Doch ohne Geld und Papiere ist ein neuer Start in Berlin unmöglich. Umberto trifft Le Pain, einen Farbigen aus Kreuzberg und Chef einer Bande von Schwarzhändlern und Dealern. Die Clique haust in einem futuristisch anmutenden Niemandsland. Umberto ist von dem bizarren Ambiente fasziniert, will aber seinen Plan nicht aufgeben. Mit allen Mitteln versucht er, an das nötige Geld zu kommen. Es reicht aber nicht: Die Reise endet für ihn und Bianca auf einer aufgeforsteten Abraumhalde. Umberto spielt Afrika, macht ein Feuer an und tanzt. Das Feuer breitet sich aus.
"Fernes Land Pa-isch" ist ein auf engem Raum eingeschränktes Roadmovie über die deutsche Wende-Wirklichkeit. Willkürlich wie bei einem Würfelspiel nehmen sich dabei die Stationen und Situationen aus, in die Umberto und Bianca geraten. Je länger Umberto unterwegs ist, desto mehr entfernt er sich von dem Ziel seiner Reise. Mit der Zustandsbeschreibung der Berliner Outlaw-Szene, eine multikulturelle Endzeitgesellschaft von Überlebens-Künstlern, Asozialen, Junkies, Wende- und Wohlstandsopfern und marodierenden Rechten, gelingt Rainer Simon der visuelle und atmosphärische Höhepunkt seiner verbitterten Reportage. Die Odyssee eines Jugendlichen auf der Suche nach seiner Identität wird durch die Dramaturgie des Films konzeptionell symbolisiert: Bilder stürzen wie Eindrücke und Zufälle aufeinander ein; vieles bleibt fragmentarisch und in aller Widersprüchlichkeit belassen. Das On-The-Road-Feeling Umbertos hat nichts mehr mit dem Lebensgefühl der Beatniks oder Hippies gemein; hier ist es nur noch die Flucht vor einer unwirtlichen Gesellschaft, in der es kein Miteinander gibt. In den beiden Hauptrollen hervorragend besetzt, überzeugen Buch und Regie besonders in den ruhigen Sequenzen, in denen Umberto – unterwegs und auf sich allein gestellt – sich liebevoll um die schutzbedürftige Bianca kümmert. Nur in diesen Extremsituationen kann er Gefühle zeigen, Zuneigung und Zutrauen geben und empfangen. Seinen inneren 'Schwebezustand' und die Angst vor einem Absturz verdeutlichen hingegen eingeblendete Bilder eines Hochseilartisten. Umberto hat am Ende des Films sein Ziel nicht erreicht. Es ist zu hoffen, dass er dennoch die Balance hält.
Im ersten Anlauf hatte die FSK mit der Freigabe ab 18 Jahren Simons Film gründlich missverstanden. Sie fand ihn zu gewalttätig und sah in dem Schicksal seines Protagonisten für Jugendliche einen Anreiz, in die Junkie-Szene einzusteigen. Nun ist es aber so, dass Gewalt in unterschiedlicher Ausprägung zum Lebensalltag von Jugendlichen zählt und folglich auch in authentischen Filmen über sie nicht ausgespart werden darf. Zwischen der Darstellung von Gewalt und Gewaltverherrlichung besteht doch wohl ein großer Unterschied. Erst im Widerspruchsverfahren wurden die Intentionen des Films verstanden und mit der Entscheidung "ab 16" akzeptiert.
Horst Schäfer
Zu diesem Film siehe auch:
KJK 60-4/1994 - Interview - "Sich an den bestehenden Verhältnissen reiben"
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