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Ausgabe 60-4/1994

DIE UNNORMALEN / DAS ORCHESTER

NIENORMALNI

Produktion: Wytwórnia Filmów Oswiatowych STO Film Ltd., Polen 1990 – Regie und Buch: Jacek Blawut – Kamera: Jerzy Rudzinski, Tadeusz Pirog – Schnitt: Jozefa Strzesniewska – Darsteller: Leszek Ploch (Musiklehrer), Tomasz Gniatkowski (Tomek), Mariusz Zawadzki (Mariusz), Henryk Lange (Henio), Katarzyna Zaboklicka (Kasia) u. a. – Länge: 79 Min. – Farbe – 35mm-Verleih: AVANCE Video- und Filmvertrieb GmbH, Brunnenstr. 196, 10119 Berlin, Tel. 030/2829388, Fax 030/2829393 – Altersempfehlung: ab 14 J.

Dokumentarischer Spielfilm – gewidmet den Eltern und Pflegern behinderter Kinder

Obwohl selbst Hollywood vor dem Thema nicht mehr zurückschreckt, gelten Behinderte im Film immer noch als peinlich oder gar als tabu, zumal wenn es sich um geistig Behinderte handelt. Gleichermaßen sind die Begegnungen mit Behinderten im Alltag nicht selten noch von Unkenntnis oder Ablehnung geprägt. Da ist es aus mitmenschlichen und marktwirtschaftlichen Überlegungen ein besonderes Wagnis und filmgeschichtlich fast einmalig, mit mongoloiden Kindern und Jugendlichen als Hauptdarstellern einen Spielfilm zu drehen. Doch mit seinem Spielfilmdebüt ist es dem langjährigen polnischen Kameramann und Dokumentarfilmregisseur Jacek Blawut gelungen, seinen Darstellern nicht nur ihre Würde zu bewahren, sondern ohne den zu erwartenden voyeuristischen Blick ein ästhetisch herausragendes Filmkunstwerk zu schaffen, das Jung und Alt gleichermaßen anzusprechen vermag. Ein kleiner Ostberliner Verleih fand schließlich den Mut, das schon 1991 beim Internationalen Jugendfilmtest positiv aufgefallene und unter dem unverfänglichen Allerweltstitel "Das Orchester" im Kulturkanal Arte ausgestrahlte Werk in die Kinos zu bringen.

"Die Unnormalen" beschreibt weniger auf einer konkreten Handlungsebene und über die Sprache, als mit Bildern und Tönen, mit vielen subtilen Stimmungen und Beobachtungen den fiktiven und dennoch realen Alltag einer Gruppe von geistig behinderten Kindern und Jugendlichen in einem polnischen Wohnheim. Mit dem Eintreffen eines neuen Musiklehrers beginnt eine Entwicklung, die das Zusammenleben der Gruppe verändert. Erste Neugier und Verwunderung wegen seines "absonderlichen" Verhaltens schlagen bei den Jugendlichen bald um in Wut und Abwehr, als der Lehrer seine Vorstellungen von "normaler" Musik durchzusetzen versucht. Doch bald lernt er, sie als Personen mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten zu akzeptieren, so dass sie nach und nach ihre Reserviertheit ihm gegenüber aufgeben und sich auf eine Beziehung einlassen.

Die Rolle des Musiklehrers übernahm Leszek Ploch, der in Polen ein Orchester für behinderte Jugendliche gegründet hatte, dem zwei der jugendlichen Darsteller (Kasia und Tomek) auch angehören. Die anderen, ebenfalls unter dem Down-Syndrom leidenden Kinder wurden aus verschiedenen Heimen zusammengesucht und prägen mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten die dramaturgische Struktur des Films. Blawut hatte sich für dieses zweijährige Spielfilmprojekt entschlossen, als er einen Dokumentarfilm über die Special Olympics, die Olympischen Spiele der Behinderten in Polen drehte. Hier spielt auch eine der stärksten Szenen des Films: Bei einem Wettrennen stolpert einer der Behinderten. Doch sein Nebenmann rennt nicht dem Sieg entgegen, sondern hält inne und hilft dem Gestürzten mühsam wieder auf die Beine. Die Brüchigkeit und Relativität unserer sogenannten "Normalität" kommt auch in anderen Szenen immer wieder zum Ausdruck. Etwa wenn die Jugendlichen für eine Theateraufführung ein anderes Heim mit Schwerstbehinderten und psychisch Kranken besuchen und dort verwundert die Erfahrung ihrer relativen Gesundheit machen. Oder in einer Diskothek, in der ein spontaner und aufrichtiger "Mongoloider" von "gesunden" Jugendlichen kurzerhand vor die Tür gesetzt wird.

Blawuts Film berührt menschlich, ohne in falschem Mitleid zu ersticken, er ist unterhaltsam und ansprechend, vielleicht streckenweise gar zu harmonisch, doch ohne dabei oberflächlich zu wirken. Er macht aufgeschlossen und nachdenklich gegenüber dem, was in unserer Gesellschaft "normal" ist, und hilft, Vorurteile gegenüber Behinderten zumindest zu relativieren. Er könnte damit vielleicht sogar zu einem besseren Umgang zwischen Behinderten und Nichtbehinderten beitragen.

Holger Twele

 

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Ausgabe 60-4/1994

 

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