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Ausgabe 102-2/2005

Der Dichter und die Märchen seines Lebens

Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag

Hintergrund

Einem Freund gegenüber, er hatte nur wenige, nannte er sie einmal "die Belanglosigkeiten". Und der prophezeite: "Sollten Ihre Romane Sie berühmt machen, so werden Sie Ihre Märchen unsterblich machen." Der Freund behielt Recht. Der Däne Hans-Christian Andersen (1805-1875) genoss Weltruhm noch zu Lebzeiten – wegen seiner Märchen. In der Verbreitung rangieren sie hinter der Bibel noch vor Shakespeare und Goethe.

An seinen Memoiren schreibt er ein Leben lang, beginnt als 17-Jähriger und ist noch im Sterbejahr damit beschäftigt. "Das Märchen meines Lebens" (1855) wird immer wieder verändert, erweitert, umgeschrieben, neu konzipiert, zufrieden war er damit nie. Vielleicht weil er dem unglaublichen Aufstieg aus bitterstem Elend in den ungeheuren Glanz nie recht traute, ihn selbst nicht fassen konnte, immer wieder nach Bestätigung von außen lechzte. Die ersten Märchen veröffentlicht er mit 30 Jahren (1835), sie werden sofort ein Erfolg. 168 sind es insgesamt, die wahrhaftigsten Zeugnisse seines Werdegangs, seiner Einsichten über die Welt, seiner Sicht auf die Welt. Alle und alles taucht dort wieder auf.

Die Personengalerie seines Werkes ist reicher als die eines Honoré de Balzac, viele seiner Märchen sind unverblümte Allegorien auf sein Leben, zum Beispiel "Das hässliche junge Entlein" und dessen Metamorphose zum bewunderten Schwan. Hans-Christian Andersen schöpft wie kein Zweiter aus sich selbst, ja, er verarbeitet sich selbst, wird in den Geschichten zum Spiegel seiner Leserinnen und Leser. Vor allem aber findet er von Anbeginn zum eigenen Ton und Klang, zur unverwechselbaren Stimmung und Atmosphäre; er wird sie beibehalten. Alles spricht, nicht nur jeder Mensch, auch jedes Ding, jedes Tier und jede Pflanze haben Stimme – seine Stimme.

Es ist bezeugt, Andersen las selbst gern vor, hegte eine ungestüme Leidenschaft für das Theater und war interessiert an den optischen Medien seiner Zeit. Die Märchen spiegeln seine Passionen getreulich wider und inspirierten die Darstellenden Künste aller Sparten zu allen Zeiten vom Ballett über die Oper hin zum Theater, von Hörspiel bis zum Film. Allein die Zahl der filmischen Adaptionen übersteigt die der Originale. Selbstverständlich kamen die ersten aus seiner dänischen Heimat und den anderen skandinavischen Ländern.

Aber auch die deutsche Filmgeschichte kann mit Kostbarkeiten aufwarten. Nur einige sollen aufgezählt werden, z. B. Lotte Reinigers schwebend-zartes Silhouetten-"Däumelinchen" (1954), Kurt Weilers traumhafter Puppenfilm "Der Koffer" (1983), Siegfried Hartmanns trickreiche Version von "Das Feuerzeug" (1959) mit dem unvergessenen Rolf Ludwig in der Hauptrolle, die geschmähte, verbotene und erst nach 30 Jahren vollendete Politsatire von Konrad Petzold "Das Kleid" (1961/1991). Außerdem: das Biedermeier-Glanzstück "Die Galoschen des Glücks" (1986, CSSR/Co.) von Juraj Herz mit Jana Brejchová in einer Doppelrolle, "Des Kaisers neue Kleider" (1993, D) vom selben Regisseur mit Harald Juhnke als Front-Adliger sowie die aufwendige Disney-Produktion "Arielle – Die Meerjungfrau" (1989, USA) bzw. deren romantisch-traurige Spielfilmversionen "Die kleine Seejungfrau" (1975, CSSR) von Karel Kachyna oder "Die traurige Nixe" (1976, Bulgarien/Co.) von Wladimir Byschtkow. Sie alle sind auf DVD oder Video erhältlich und die (Wieder-)Entdeckung im Jubiläumsjahr lohnt in jedem Falle.

Wer nicht sehen will, kann auch hören, z. B. Lesungen mit Hella von Sinnen als "Prinzessin auf der Erbse" (Deutsche Grammophon) oder Rosemarie Fendel mit "Die schönste Rose der Welt" (Ucello) oder Tommi Piper, die "Alf"-Stimme, bei JUMBO oder die wunderbar-präzisen Hörspiele des ehemaligen DDR-Rundfunks (BMG/Litera junior). Wer sich zunächst einmal nur informieren möchte, kann auch lesen: den Sonderdruck der Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz "Verfilmte Märchenwelten" (1999) oder die Dichter-Biografie von Erling Nielsen (rororo 1290/rm 50005). Lesen steht überhaupt an erster Stelle, und zwar die Märchen, die schönsten "Belanglosigkeiten" seines Lebens, die Märchen des Hans-Christian Andersen.

Joachim Giera

 

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Ausgabe 102-2/2005

 

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Interviews

Ghobadi, Bahman - "Solange Öl und Geld bei uns fließen, wird es immer Krieg geben"| Kravchuk, Andrei - "Jeder muss sich für sein Leben verantwortlich fühlen und dafür etwas tun"| Mandoki, Luis - "Ich hoffe, dass die Regierungen an uns Kinder denken, bevor sie ihre Entscheidungen treffen"|

Hintergrundartikel

Der Dichter und die Märchen seines Lebens|


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