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Ausgabe 103-3/2005

GEH UND LEBE

VA, VIS ET DEVIENS

Produktion: Elzévir Films / Oï Oï Oï Prod. / Transfax Film; Frankreich / Israel 2004 – Buch und Regie: Radu Mihaileanu – Kamera: Rémy Chevrin – Schnitt: Ludo Troch – Musik: Armand Amar – Darsteller: Yael Abecassis (Yael), Roschdy Zem (Yoram), Moshe Agazai (Schlomo als Kind), Mosche Abebe (Schlomo als Teenager), Sirak M. Sabahat (Schlomo als Erwachsener), Roni Hadar (Sarah) u. a. – Länge: 153 Min. – Farbe – Vertrieb: Films Distribution Paris, Fax ++1-5310 3398 / Telepool, München – Altersempfehlung: ab 14 J.

Der in Rumänien geborene und in Frankreich lebende Regisseur Radu Mihaileanu ist international mit seinem Holocaust-Drama "Zug des Lebens" bekannt geworden, in dem es um Fragen des Überlebens in einer feindlich gesinnten Gesellschaft und in der jüdischen Identität ging. Auch sein neues Werk vor authentisch zeitgeschichtlichem Hintergrund handelt davon, doch diesmal geht es nicht um den Holocaust, sondern um die anrührende Coming-of-age-Geschichte eines äthiopischen Jungen, der 1984 als Neunjähriger nach Israel gelangt und in der von Vorurteilen gegen die sogenannten Falashas (äthiopischen Juden) geprägten israelischen Gesellschaft um seine Integration kämpfen muss.

Als es 1984 in Äthiopien zu einer Hungerkatastrophe kam und viele Menschen in den benachbarten Sudan flohen, entschlossen sich Israel und die USA zu einem groß angelegten Hilfsprojekt für die äthiopischen Juden, das unter dem Namen "Operation Moses" in die Geschichte eingegangen ist. Wer es geschafft hatte, durch die Wüste in die Auffanglager im Sudan zu gelangen, und das waren vor allem die Jüngeren, konnte darauf hoffen, über eine Luftbrücke dauerhaft nach Israel ins gelobte Land zu kommen. Etwa 6000 Falashas waren es bei dieser Aktion, denen in den Folgejahren noch weitere Zehntausende folgten. Für die meisten unter ihnen war es die erste Begegnung mit der westlichen Zivilisation. Viele litten unter Anpassungsschwierigkeiten und sahen sich beim langwierigen Prozess der Integration großen Ressentiments seitens der israelischen Bevölkerung ausgesetzt. Nicht alle vermeintlichen Juden waren auch wirklich jüdischen Glaubens und an dieser heiklen Stelle setzt Mihaileanu mit seiner Geschichte an:

Um ihren neunjährigen Sohn vor dem Hungertod im Lager zu retten, zwingt ihn die katholische Mutter, sich als jüdisches Waisenkind auszugeben und wegzugehen. Schlomo, wie der Junge von der Einwanderungskommission fortan genannt wird, bekommt in Israel französisch-sephardische Adoptiveltern und ein neues Zuhause mitten im Wohlstand. Die neuen Geschwister und die Zieheltern sind sehr bemüht, dem Jungen Wärme und Geborgenheit zu geben. Dabei lebt Schlomo in ständiger Angst, dass seine wahre Identität als Nichtjude und Nichtwaise entdeckt werden könnte, zumal er sich auch sehr nach seiner leiblichen Mutter sehnt, die ihm damals im Lager in der Wüste befohlen hatte, nach Israel zu gehen und dort zu leben, so wie es der Filmtitel benennt. Gegen alle Widerstände und Vorurteile der israelischen Gesellschaft hinweg wird er zum Musterschüler, lernt nicht nur die Gebräuche des Judentums kennen, sondern schlägt in einem Thorawettbewerb sogar alle Kontrahenten und verliebt sich als Jugendlicher schließlich in die Tochter eines ultraorthodoxen Juden, der dem dunkelhäutigen Verehrer mehr als einmal die Tür vor der Nase zuschlägt.

Zu Beginn macht die Kamera den Zuschauern bewusst jegliche Orientierung schwer. Erst viel später erfährt man die Details jener Absprache mit dem vermeintlichen jüdischen Waisenkind und etwas von den Motivationen der daran beteiligten Figuren. Lediglich der Schmerz des Jungen ist spürbar, der aus ihm zunächst nicht verständlichen Gründen so brutal von der Mutter weggeschickt wird. Diese subjektive Kamera bewirkt später aber auch eine für jugendliche Zuschauer nachvollziehbare starke Identifikation mit den Wünschen und Sorgen des heranwachsenden Jungen in Israel. Trotz seiner Überlänge bleibt der Film spannend und emotional mitreißend bis zum ergreifenden Schluss, als Schlomo als mittlerweile Erwachsener seiner Mutter endlich wieder begegnet.

"Geh und lebe" ist weit mehr als der gelungene Sozialisationsprozess eines Jungen über zwei Altersstufen sowie über gänzlich verschiedene Kulturen hinweg. Differenziert plädiert der Film für die Überwindung von Intoleranz und Vorurteilen ohne aufgesetzte Schönfärberei oder übertriebenes Pathos. Er verschweigt dabei weder die Probleme in der Familie noch die Brüche und Antagonismen in der israelischen Gesellschaft. Selbst Schlomos engagierte Pflegemutter scheitert beinahe an ihrer Aufgabe, indem sie den Jungen insgeheim zunächst als Fremdkörper ansieht, der das eigene Familienglück zerstören könnte. Aus kritischer Distanz beleuchtet Mihaileanu die Operation Moses, die allein die Juden vor dem Hungertod retten wollte und auch dazu führte, dass viele Kinder ohne ihre zu sehr geschwächten Eltern in ein fremdes Land gekommen sind, zu "Waisen auf Grund der äußeren Umstände" wurden.

Mit Humor und leiser Ironie erzählt Radu Mihaileanu von dem für beide Seiten oftmals schwierigen Prozess der Selbstbehauptung dieser Falashas in Israel und der Doppelmoral der Selbstgerechten und Ultranationalen. Denn nicht Glaubens- und Gesetzestreue dem Wort nach, sondern praktizierte Mitmenschlichkeit, Fürsorge und Akzeptanz genießen bei ihm oberste Priorität und dafür wurde er kräftig belohnt. Der überragende Eröffnungsfilm des Panorama-Programms der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2005 erhielt dort gleich drei Preise: den Panorama Publikumspreis, das Label Europa Cinemas und den Preis der Ökumenischen Jury für das Panorama-Programm. Bleibt also nur noch zu hoffen, dass dem Film auch eine Kinoauswertung in Deutschland vergönnt ist.

Holger Twele

 

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